20.08.2020

Kindergeld für behinderte Kinder

Für die Frage, ob ein volljähriges behindertes Kind i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG unfähig ist, sich selbst zu unterhalten, sind die dem Kind zur Verfügung stehenden Mittel auch dann nicht um das (fiktive) Kindergeld zu kürzen, wenn das Kindergeld im Falle seiner Festsetzung an das Kind weitergeleitet werden würde und ohne die Weiterleitung die Voraussetzungen einer Abzweigung des Kindergelds an das Kind vorlägen. Die Nachrangigkeit der Sozialhilfe gegenüber anderen Sozialleistungen bewirkt für sich noch nicht, dass die Sozialhilfe insoweit bei den kindeseigenen Bezügen nicht berücksichtigt werden darf. Nur soweit der Sozialleistungsträger die Eltern in Regress nimmt, kommt eine Minderung der Bezüge in Betracht.

Kurzbesprechung
BFH v. 27.11.2019 - III R 28717

EStG § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3, § 62 Abs. 1 S. 1, § 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 74 Abs 1
SGB 12 § 19 Abs 3, § 43 Abs 5, §§ 53ff,


Nach § 62 Abs. 1 Satz 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2, § 32 Abs. 1, Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht ein Kindergeldanspruch für ein Kind, welches das 18. Lebensjahr vollendet hat u.a. dann, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten; Voraussetzung ist, dass die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist.

Den Antrag auf Festsetzung des Kindergelds kann außer dem Berechtigten auch stellen, wer ein berechtigtes Interesse an der Leistung des Kindergelds hat. Ein solcher Dritter, der ein berechtigtes Interesse daran hat, dass Kindergeld zugunsten des Kindergeldberechtigten festgesetzt wird, ist insbesondere ein Sozialleistungsträger, der einem behinderten Kind Unterhaltsleistungen gewährt. Darüber hinaus ist der nach § 67 Satz 2 Alternative 2 i.V.m. § 74 Abs. 1 EStG Antragsberechtigte befugt, gegen den das Festsetzungsverfahren abschließenden Bescheid Einspruch einzulegen und gegen die im Einspruchsverfahren ergangene Entscheidung Klage zu erheben.

Die kindergeldrechtliche Berücksichtigung eines volljährigen behinderten Kindes setzt nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG u.a. voraus, dass es außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Ob dies der Fall ist, muss anhand einer monatsweise durchzuführenden Vergleichsrechnung ermittelt werden. Hierbei sind zwei Bezugsgrößen gegenüberzustellen, nämlich einerseits der gesamte existenzielle Lebensbedarf des behinderten Kindes, welcher sich typischerweise aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammensetzt, und andererseits die finanziellen Mittel des Kindes, zu welchen nicht nur dessen Einkünfte und Bezüge als verfügbares Einkommen, sondern auch Leistungen Dritter gehören. Voraussetzung für die Berücksichtigungsfähigkeit der Mittel ist, dass sie zur Bestreitung des Lebensunterhalts des Kindes bestimmt oder geeignet sind.

Im Streitfall hatte das FG zu Unrecht die dem Kind zur Verfügung stehenden Mittel um das Kindergeld in Höhe von 188 € (Oktober bis Dezember 2015) und 190 € (Januar bis Juni 2016) gekürzt. Insofern ist zwischen den kindergeldrechtlichen und den sozialhilferechtlichen Folgen der Weiterleitung des Kindergelds zu unterscheiden.

In kindergeldrechtlicher Hinsicht hat die Weiterleitung des Kindergelds vom Kindergeldberechtigten an das Kind keinen Einfluss auf die dem Kind zur Verfügung stehenden Mittel. Denn Unterhaltsleistungen des Kindergeldberechtigten an das Kind sind nicht als Einnahmen des Kindes zu berücksichtigen. Gleiches gilt, wenn der Kindergeldberechtigte das zu seinen Gunsten festgesetzte Kindergeld an das Kind weiterleitet, da auch diese Weiterleitung eine Unterhaltsleistung des Kindergeldberechtigten darstellt. Andernfalls könnte die dem Zweck der Kindergeldgewährung entsprechende Weiterleitung des Kindergelds an das Kind die an sich gegebenen Anspruchsvoraussetzungen nachträglich wieder entfallen lassen.

Der BFH entschied, dass nichts anderes gilt, wenn in einem solchen Weiterleitungsfall das Kindergeld deshalb nicht beim Kind ankommt oder verbleibt, weil ein Sozialleistungsträger erfolgreich einen Abzweigungsanspruch nach § 74 Abs. 1 EStG oder einen Erstattungsanspruch nach § 74 Abs. 2 EStG geltend gemacht hat. Da das weitergeleitete Kindergeld auf der Einnahmenseite nicht berücksichtigt wird, wird es im Fall eines verhinderten Zuflusses oder eines Abflusses beim Kind auch nicht als (fiktive) Ausgabe berücksichtigt.

Dementsprechend kann nicht einerseits die im Streitfall mangels Kindergeldfestsetzung tatsächlich nicht erfolgte Weiterleitung des Kindergelds als bestehend unterstellt und daraus ein entsprechendes Einkommen des Kindes abgeleitet, dieses Kindergeld dann aber auf der Einnahmenseite nicht als zugeflossen, jedoch als abgeflossen behandelt werden.
Verlag Dr. Otto Schmidt
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