01.07.2020

Kontenpfändung kann wegen der Corona-Einschränkungen im Einzelfall unbillig sein

Die Vollstreckung in Bankguthaben kann angesichts der derzeitigen Situation unter besonderer Berücksichtigung der durch die Corona-Pandemie erwirkten Einschränkungen unbillig sein. Die Frage, ob durch das BMF-Schreiben vom 19.3.2020 zugunsten eines Steuerpflichtigen ein subjektiver Anspruch auf ein Absehen von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen herzuleiten ist, und bejahendenfalls ab welchem Zeitpunkt ein solcher Anspruch bestehen kann, hat grundsätzliche Bedeutung.

FG Düsseldorf v. 29.5.2020 - 9 V 754/20 AE(KV)
Der Sachverhalt:
Die Antragsteller erzielen seit Jahren im Wesentlichen Vermietungseinkünfte sowie Einkünfte aus Kapitalgesellschaftsbeteiligungen. Für die Veranlagungszeiträume 2010 sowie 2014 streiten sie in anderen Klageverfahren um die Anerkennung von vortragsfähigen Verlusten i.H.v. ca. 1,5 Mio. €. Für den Fall des Obsiegens gehen die Antragsteller davon aus, dass der Verlust bis mindestens zum Veranlagungszeitraum 2019 vorzutragen sei und zwischenzeitliche Einkommensteuerfestsetzungen nachträglich auf 0 € zu reduzieren seien.

Wegen fälliger Steuerforderungen, gegen die sich die Antragsteller ebenfalls in verschiedenen weiteren anhängigen Eilrechts- und Hauptsacheverfahren wehren, verfügte das Finanzamt am 19.3.2020 die Pfändung und Einziehung von Bankguthaben der Antragssteller bei zwei Banken. Die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen sind den Drittschuldnern am 25.3.2020 zugestellt worden. Mit Schreiben vom 30.3.2020 wurden den Antragstellern Ausfertigungen der Verfügungen übersandt sowie die Zustellung an die Drittschuldner zur Kenntnis gebracht.

Mit Verweis auf die anhängigen Klageverfahren hatten die Antragsteller bereits am 18.2.2020 beim Finanzamt Vollstreckungsschutz beantragt. Diesen Antrag erneuerten sie nach Erlass und Kenntniserlangung von den Pfändungsverfügungen vom 30.3.2020 mit dem erweiterten Begehren, offene Steuerforderungen zu stunden, bis zum 31.12.2020 Vollstreckungsaufschub zu gewähren und die eingeleiteten Kontopfändungen aufzuheben. Zur Begründung verwiesen sie neben den noch zu erstreitenden Verlusten zudem auf das BMF-Schreiben vom 19.3.2020 betreffend "Steuerliche Maßnahmen zur Berücksichtigung des Coronavirus COVID-19/SARS-CoV-2".

Das Finanzamt war der Ansicht, für den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung fehle es an einem Anordnungsanspruch, der insbesondere nicht aus § 258 AO herzuleiten sei. Es fehle überdies an einem Anordnungsgrund, weil keine außergewöhnlichen und schwerwiegenden Folgen der Vollstreckung vorgetragen seien. Insbesondere habe nicht bekannt sein können, dass die Antragsteller als Vermieter in über das gewöhnliche Maß hinausgehender Weise von der Corona-Pandemie wegen Nichtzahlung von Mieten und ihren eingeschränkten Kündigungsmöglichkeiten betroffen sein könnten.

Das FG hat das Finanzamt im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen vom 19.3.2020 gegen Sicherheitsleistung der Antragsteller i.H.v. 380.000 € aufzuheben. Allerdings wurde die Beschwerde zum BFH zugelassen.

Die Gründe:
Die Antragsteller haben einen auf vorläufige Aufhebung der Kontopfändungen gem. § 258 AO gerichteten Anspruch. Wegen der Selbstbindung der Verwaltung, ausgedrückt durch das BMF-Schreiben vom 19.3.2020, ist über Art. 3 Abs. 1 GG das Ermessen des Finanzamtes auf das Absehen von Vollstreckungsmaßnahmen bis zum 31.12.2020 reduziert und schließt die Aufhebung bereits erfolgter und ohne Weiteres aufhebbarer Vollstreckungsmaßnahmen ein. Durch Darlegung der Voraussetzung dieses Anspruchs ist auch die Notwendigkeit einer Regelung (Anordnungsgrund) bezeichnet. Die Glaubhaftmachung ist erfolgt.

Die Vollstreckung in die Bankguthaben der Antragsteller ist angesichts der derzeitigen Situation unter besonderer Berücksichtigung der durch die Corona-Pandemie erwirkten Einschränkungen für die Antragsteller unbillig. Die Unangemessenheit der Nachteile für die Antragsteller ergibt sich dabei nicht aus der Ausbringung der Zwangsvollstreckungsmaßnahmen an sich, denn Nachteile sind diesen innewohnend und daher nicht für sich unangemessen. Durch die Pfändungs- und Überweisungsverfügungen in der derzeitigen Situation ergeben sich jedoch Nachteile besonderer Art, die sie unangemessen und damit unbillig werden lassen. Sie bewirken nämlich eine besondere Doppelbelastung für die Antragsteller.

Die Pfandverstrickung und das ausgesprochene Verfügungsverbot führen zu einem faktischen Liquiditätsentzug in Höhe der gepfändeten Bankguthaben und haben zur Folge, dass die Antragsteller ihren Lebensunterhalt und die zur Bewirtschaftung der Vermietungsobjekte notwendigen finanziellen Mittel, darunter auch die Zahlung von Finanzierungszinsen, soweit vorhanden aus anderweitigen Quellen bestreiten müssten. Die zu anderer Zeit regelmäßigen Mietzahlungen, die eine stetige Liquidität sicherstellen können, fallen angesichts der derzeitigen wirtschaftlichen Situation aus, weil sich die Antragsteller Mieteinbehaltungen u.a. für April 2020 und gegebenenfalls darüber hinaus ausgesetzt sehen, zugleich aber daran gehindert sind, die ihnen sonst bei Nichtzahlung von Mieten zustehenden Kündigungsrechte geltend zu machen.

So sieht Art. 5 § 2 des Gesetzes zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht zwar vor, dass die Mietverpflichtungen den Zeitraum April 2020 bis Juni 2020 weiterhin fällig bleiben und auch Verzugszinsen entstehen können. Auch müssen die rückständigen Mieten aus dem Zeitraum vom 1.4.2020 bis 30.6.2020 bis zum 30.0.2022 beglichen werden. Für den Moment führt dieser vorübergehende Mieterschutz indes zu Benachteiligungen für Vermieter wie die Antragsteller, die Liquiditätseinbußen zu tragen haben und umso mehr auf vorhandene Liquidität angewiesen sind, denen aber durch Kontopfändungen gerade Liquidität entzogen wird.

Die im Streitfall entscheidenden Fragen haben allerdings grundsätzliche Bedeutung. Dies betrifft zum einen die Frage, ob durch das BMF-Schreiben vom 19.3.2020 zugunsten eines Steuerpflichtigen ein subjektiver Anspruch auf ein Absehen von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen herzuleiten ist, und bejahendenfalls ab welchem Zeitpunkt ein solcher Anspruch bestehen kann. Darüber hinaus ist nicht geklärt, ob das "Absehen" von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen lediglich gebietet, keine weiteren Vollstreckungsmaßnahmen auszubringen, oder ob vor dem Hintergrund des Erlasses des BMF-Schreibens auch bereits ausgebrachte Vollstreckungsmaßnahmen mit liquiditätsentziehender Wirkung aufzuheben sind.

 
FG Düsseldorf online
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