Rüge eines Verfahrensfehlers durch Bezugnahme auf entsprechenden Vortrag in Schriftsatz des betroffenen Beteiligten
BFH 11.4.2016, X B 77/15Die Kläger sind Eheleute, die in den Streitjahren 2005 und 2006 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurden. Der Kläger war in diesen Jahren u.a. Inhaber eines unter der Bezeichnung X geführten Massagebetriebs (Studio). Im Anschluss an eine polizeiliche Durchsuchung der Räumlichkeiten des Studios im Oktober 2005, bei der handschriftliche Aufzeichnungen des Klägers vorgefunden wurden, wurde beim Kläger eine Betriebsprüfung durchgeführt.
Bei dieser gelangte der Prüfer zu dem Ergebnis, zwischen den Kassenaufzeichnungen für das Studio und den vorgefundenen Aufzeichnungen des Klägers über die Erlöse bestehe eine Differenz. Hierauf wurden die in den Streitjahren erzielten Erlöse und Gewinne des Studios in Anlehnung an die Aufzeichnungen des Klägers geschätzt. Dem folgte das Finanzamt und setzte in geänderten Einkommensteuerbescheiden für die Streitjahre jeweils die gewerblichen Einkünfte des Klägers auf der Grundlage der Schätzungen an.
Mit ihrer Klage machen die Kläger geltend, die für das Studio gefertigten Kassenaufzeichnungen seien korrekt. Die vorgefundenen handschriftlichen Aufzeichnungen des Klägers enthielten keine Abrechnungen über tatsächliche Einnahmen und Ausgaben. Es handle sich um bloße Skizzen des Klägers zu einer Kalkulation des Studios. Auch sei davon auszugehen, dass die verantwortliche Leiterin des Studios (Frau A) diese handschriftlichen Aufzeichnungen verändert und ergänzt habe. Entgegen der Annahme des Finanzamts seien im Studio keine sexuellen Dienstleistungen erbracht worden. Die hierfür zusätzlich im Wege der Schätzung angesetzten Erlöse seien nicht berechtigt.
Das FG wies die Klage ab. Die Revision zum BFH wurde nicht zugelassen. Auf die Beschwerde der Kläger wegen Nichtzulassung der Revision hob der BFH das Urteil auf und verwies den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurück.
Die Gründe:
Die Kläger sehen zu Recht einen Verfahrensmangel darin, dass sie bereits in ihrer Klagebegründungsschrift zum Beweis dafür, dass die vom Finanzamt in den angefochtenen Steuerbescheiden im Wege der Schätzung angesetzten Gewinnerhöhungen nicht bzw. nicht in dem angesetzten Umfang berechtigt waren, u.a. vier Zeugen benannt haben. Das FG hat versäumt, diesen Beweisanträgen nachzukommen.
Das FG war unter Berücksichtigung der vorstehend dargestellten Grundsätze gehalten, insbesondere die Zeugin A zu hören, denn der Antrag auf Vernehmung dieser Zeugin war u.a. auch darauf gerichtet, der Schätzung zusätzlicher Betriebseinnahmen aus solchen zusätzlichen Dienstleistungen durch das Finanzamt entgegenzutreten. Und auch von der beantragten Vernehmung der Zeuginnen C und B durfte das FG nicht absehen. Die Kläger haben die Zeuginnen zum Beweis für die Tatsache benannt, dass Frau B nur als Telefonistin und Frau C ausschließlich als Reinigungskraft beschäftigt waren. Die Kläger treten mit diesem Beweisantrag der Annahme des Finanzamts entgegen, diese Zeuginnen hätten sexuelle Dienstleistungen in dem Studio erbracht.
Die Kläger haben ihr Recht, das Übergehen ihres Beweisantrags zu rügen, auch nicht durch Rügeverlust verloren. Zwar geht ein solches Rügerecht gem. § 295 Abs. 1 der ZPO i.V.m. § 155 S. 1 FGO verloren, wenn das Übergehen eines Beweisantrags von dem betroffenen Beteiligten nicht in der nächsten mündlichen Verhandlung gerügt wird, sofern für diesen Beteiligten erkennbar war, dass das FG die beantragte Beweisaufnahme nicht durchführen wird. Die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor dem FG lässt zwar nicht erkennen, dass die Kläger das Übergehen ihres Beweisantrags ausdrücklich gerügt haben. Sie haben aber eine solche Rüge in ihrem für diese mündliche Verhandlung bestimmten Schriftsatz angebracht, der am Folgetag beim FG einging. Diese Rüge ist unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse des Streitfalls zur Verhinderung eines Rügeverlusts ausreichend.
Nach der Rechtsprechung des BAG und des BGH kann eine das Verfahren betreffende Rüge nicht nur durch ausdrücklichen Vortrag in der mündlichen Verhandlung, sondern auch durch die Bezugnahme auf einen diese Rüge betreffenden Vortrag in einem Schriftsatz des betroffenen Beteiligten erfolgen. Eine solche Bezugnahme kann auch konkludent stattfinden. Sofern keine anderweitigen Anhaltspunkte bestehen, ist von einer solchen konkludenten Bezugnahme auf die schriftsätzlich geltend gemachte Rüge auszugehen, weil mit der Stellung des Sachantrags durch diesen Beteiligten in der mündlichen Verhandlung im Zweifel eine Bezugnahme auf den Inhalt der zur Vorbereitung im gerichtlichen Verfahren eingereichten Schriftsätze verbunden ist.
Diese zum Zivilprozess entwickelten Grundsätze sind im Verfahren vor dem FG jedenfalls dann entsprechend anzuwenden, wenn die Einreichung des Schriftsatzes, welcher die maßgebliche Verfahrensrüge enthält, in der mündlichen Verhandlung angesprochen worden ist, weil auf diese Weise alle zur Entscheidung berufenen Richter einschließlich der ehrenamtlichen Richter Kenntnis von dem Inhalt dieses Schriftsatzes erlangen und sich durch Rückfragen Kenntnis von dessen Inhalt verschaffen können. Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall vor.
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