11.01.2024

Sturzrisiko kann nur mit medizinischer bzw. pflegewissenschaftlicher Sachkunde beurteilt werden

Ein Krankenhausträger hat die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um zu verhindern, dass sich ein auf Grund der konkreten Situation für die stationär aufgenommene Patientin bestehendes Sturzrisiko verwirklicht. Ob im Hinblick auf das in der Person der Patientin bestehende Gefährdungspotential zum Zeitpunkt des Sturzes zusätzliche Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Mittagessen erforderlich waren - und wenn ja, welche - kann ohne medizinische bzw. pflegewissenschaftliche Sachkunde nicht beantwortet werden.

BGH v. 14.11.2023 - VI ZR 244/21
Der Sachverhalt:
Die Kläger sind die Erben einer im Juni 2015 verstorbenen ehemaligen Patientin der Beklagten. Der damals 66-jährigen Patientin war in der von der Beklagten betriebenen Klinik im Dezember 2008 eine Knieendoprothese links implantiert worden. Nach der Operation traten bei ihr Unruhe und Verwirrtheit auf. Zudem wurde ein "extrem hohes Sturzrisiko" angenommen. beim Transfer auf den WC-Stuhl im Beisein einer Pflegekraft stürzte die Patientin ohne sich zu verletzen. Beim Mittagessen stürzte jedoch erneut, diesmal von der Bettkante sitzend auf den Boden. Dabei erlitt sie eine Unterschenkelmehrfachfragmentfraktur links. Nach zunächst unauffälligem OP-Verlauf ergaben sich in der Folgezeit Komplikationen, die zur Amputation des linken Beines führten.

Die Kläger waren der Ansicht, dass der Zustand der Patientin beim Mittagessen weitere Schutz- und Obhutsmaßnahmen erfordert hätte, deren Unterlassen einen groben Behandlungsfehler darstelle. Die Patientin sei darüber hinaus grob behandlungsfehlerhaft nicht darüber aufgeklärt worden, dass sie sich nicht alleine mobilisieren dürfe.

Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Kläger hat der BGH das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurückverwiesen.

Gründe:
Richtig war zwar der Ansatz des Berufungsgerichts, wonach die pflegerische Betreuung der stationär aufgenommenen Patienten zu den Vertragsaufgaben des Krankenhausträgers gehört und dieser insoweit eine eigene Verantwortung für das von ihm eingesetzte Pflegepersonal trägt. Zutreffend war es auch davon ausgegangen, dass dem Krankenhausträger vertragliche Pflichten zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit der Patienten obliegen und er die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen hat, um zu verhindern, dass sich ein auf Grund der konkreten Situation für en Patienten bestehendes Sturzrisiko verwirklicht.

Die Nichtzulassungsbeschwerde wandte sich aber mit Erfolg gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, die Kläger hätten einen Pflegefehler nicht schlüssig dargelegt und es seien auch unter Berücksichtigung des noch am Vormittag des Sturztages gegebenen Verwirrtheits- und Unruhezustands der Patientin keine besonderen Schutzmaßnahmen im Zusammenhang mit dem Mittagessen erforderlich gewesen. Diese Beurteilung beruhte auf einer Verletzung des Anspruchs der Kläger auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG. Das Berufungsgericht hatte die Anforderungen an den Sachvortrag überspannt, sich über den Antrag der Kläger auf Einholung eines Sachverständigengutachtens hinweggesetzt und die Frage, ob der Beklagten ein Fehler bei der pflegerischen Betreuung der Patientin unterlaufen war, verfahrensfehlerhaft ohne die erforderliche Hinzuziehung eines Sachverständigen aus eigener, nicht ausgewiesener Sachkunde beantwortet.

Ob im Hinblick auf das in der Person der Patientin bestehende Gefährdungspotential zum Zeitpunkt des Sturzes zusätzliche Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Mittagessen erforderlich waren - und wenn ja, welche - kann ohne medizinische bzw. pflegewissenschaftliche Sachkunde nicht beantwortet werden. Es kann nicht aussgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht zu einer anderen Beurteilung des Falles gelangt wäre, wenn es den übergangenen Vortrag der Kläger berücksichtigt und das beantragte Sachverständigengutachten eingeholt hätte.

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