Verlustrücktrag: Auswirkungen auf den Gesamtbetrag der Einkünfte im Entstehungsjahr
Kurzbesprechung
BFH v. 3.5.2023 - IX R 6/21
EStG § 2 Abs 3, § 10d Abs 1, § 10 Abs 4b S 3
Streitig war, ob ein negativer Gesamtbetrag der Einkünfte im Streitjahr einen Kirchensteuererstattungsüberhang ausgleicht, obwohl die im Streitjahr nicht ausgeglichenen negativen Einkünfte im unmittelbar vorangegangenen Veranlagungszeitraum in voller Höhe vom dortigen Gesamtbetrag der Einkünfte abgezogen worden sind (Verlustrücktrag).
Negative Einkünfte, die bei der Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte nicht ausgeglichen werden, sind in bestimmten Grenzen vom Gesamtbetrag der Einkünfte des unmittelbar vorangegangenen Zeitraums abzuziehen (§ 10d Abs. 1 EStG). Das Gesetz überschreibt damit die ursprüngliche zeitliche Zuordnung der betreffenden Einkünfte. Sie werden, soweit sie dort abgezogen werden, mit steuerlicher Wirkung in das Abzugsjahr "zurückgetragen".
§ 10d Abs. 1 EStG regelt nicht ausdrücklich, welche Auswirkungen der Verlustrücktrag im Entstehungsjahr hat. Die Frage ist weder gerichtlich entschieden noch wird sie, soweit ersichtlich, im Schrifttum erörtert. Ist der Gesamtbetrag der Einkünfte im Entstehungsjahr vor dem Verlustrücktrag negativ, wirkt es sich auf die Ermittlung des Einkommens und die Höhe der festzusetzenden Steuer nicht aus, ob er nach dem Verlustrücktrag um den zurückgetragenen Betrag und gegebenenfalls bis auf null Euro erhöht wird. Anders ist dies, wenn, wie im Streitfall, ein Hinzurechnungsbetrag nach § 10 Abs. 4b Satz 3 EStG das Einkommen erhöht. Dann stellt sich die Frage, ob der negative Gesamtbetrag der Einkünfte im Entstehungsjahr ungeachtet des Verlustrücktrags weiterhin die Grundlage für die Ermittlung des Einkommens im Entstehungsjahr bildet und den Hinzurechnungsbetrag, der sich steuererhöhend auswirkt, mindert.
Der BFH hat diese Frage verneint. Negative Einkünfte sind, soweit sie nach § 10d Abs. 1 EStG zurückgetragen worden sind, zeitlich nicht mehr dem Entstehungsjahr zuzuordnen und bilden demzufolge auch nicht (mehr) die Grundlage für die Ermittlung des Einkommens im Entstehungsjahr. Für den Gesamtbetrag der Einkünfte im Entstehungsjahr bedeutet dies, dass er nach Durchführung des Verlustrücktrags um den Betrag der zurückgetragenen Einkünfte zu erhöhen ist.
Sind die im Entstehungsjahr nicht ausgeglichenen negativen Einkünfte in voller Höhe zurückgetragen worden, beträgt der Gesamtbetrag der Einkünfte im Entstehungsjahr nach der Durchführung des Verlustrücktrags null Euro. Das ist die Folge der materiell-rechtlichen Konzeption des § 10d Abs. 1 EStG und der Grundregeln der periodengerechten Einkommensermittlung. Die in zeitlicher Hinsicht ursprünglich dem Entstehungsjahr zuzuordnenden Einkünfte werden unter den Voraussetzungen des § 10d Abs. 1 EStG dem Rücktragsjahr zugeordnet und dort berücksichtigt. Das bedeutet, dass sie im Rücktragsjahr eine Ausgangsgröße (Besteuerungsgrundlage) für die Ermittlung des im Rücktragsjahr wirksam werdenden Verlustabzugs bilden.
Dadurch wird eine vom Grundfall abweichende, eindeutige zeitliche Zuordnung bewirkt, die es wie die ursprüngliche zeitliche Zuordnung ausschließt, dass die betroffenen Besteuerungsgrundlagen zugleich in einem anderen Besteuerungsabschnitt berücksichtigt werden. Denn die zugrunde liegende Annahme, dass ein besteuerungsrelevanter Sachverhalt bei der Ermittlung des Einkommens nur einmal, das heißt in einer bestimmten Periode, und nicht zugleich in einer anderen Periode berücksichtigt werden kann, wird durch die von § 10d Abs. 1 EStG materiell-rechtlich geänderte zeitliche Zuordnung nicht infrage gestellt, sondern bestätigt.
Die eindeutige zeitliche Zuordnung aller Besteuerungsgrundlagen ermöglicht es nicht nur, das Einkommen periodengerecht zu ermitteln; sie bezweckt zugleich, Doppel- und Mehrfachberücksichtigungen auszuschließen. Dies ist notwendig, um den relevanten Zuwachs an finanzieller Leistungsfähigkeit gleichmäßig und sachgerecht ermitteln zu können.
Diese Wirkungsweise des Verlustabzugs zeigt sich auch darin, dass nach § 10d Abs. 1 EStG nur die "nicht ausgeglichenen" negativen Einkünfte zurückgetragen werden können. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass negative Einkünfte, soweit sie im Entstehungsjahr ausgeglichen worden sind, für den Rücktrag nicht zur Verfügung stehen. Sie sind im Entstehungsjahr wirksam geworden und durch den Ausgleich "verbraucht". Insofern verbleibt es bei der ursprünglichen zeitlichen Zuordnung.
Entsprechendes muss gelten, soweit es zum Rücktrag, das heißt zu einer abweichenden zeitlichen Zuordnung der betreffenden Besteuerungsgrundlagen, kommt: Sie wirken sich dann (nur noch) im Rücktragsjahr aus und sind danach für eine weitere Berücksichtigung im Entstehungsjahr wie auch für den Verlustvortrag "verbraucht".
Verfahrensrechtliche Folge davon ist, dass über Grund und Höhe des Verlustrücktrags im Rücktragsjahr zu entscheiden ist, wo sich der Verlustrücktrag auswirkt. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die im Streitfall umstrittene Hinzurechnung nach § 10 Abs. 4b Satz 3 EStG nicht bei der Ermittlung der Summe der Einkünfte beziehungsweise des Gesamtbetrags der Einkünfte, sondern bei der Ermittlung des Einkommens ansetzt. Zwar bildet nach § 2 Abs. 4 EStG der Gesamtbetrag der Einkünfte den Ausgangspunkt für die weitere Ermittlung des Einkommens. Die Vorschrift knüpft damit begrifflich an § 2 Abs. 3 EStG an. Die durch den Verlustrücktrag nach § 10d Abs. 1 EStG bewirkte Veränderung dieser Größe ist jedoch nicht etwa systemfremd, sondern dem Umstand geschuldet, dass der Verlustabzug nach § 10d EStG in dem durch § 2 EStG vorgegebenen Schema der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens zwischen § 2 Abs. 3 und Abs. 4 EStG zu verorten ist. Zwar bezieht sich die Formulierung "vorrangig vor Sonderausgaben" in § 10d Abs. 1 EStG auf das Rücktragsjahr. Für den Verlustvortrag gilt aber Entsprechendes. Auch er wird "vorrangig vor Sonderausgaben" abgezogen (§ 10d Abs. 2 Satz 1 EStG).
In der Zusammenschau kommt verallgemeinerbar zum Ausdruck, an welcher Stelle im Schema des § 2 EStG der Verlustabzug durchzuführen ist. Für das Entstehungsjahr kann insofern nichts anderes gelten. Allerdings ist der Wortlaut des § 2 EStG insofern unscharf, als begrifflich zwischen dem Gesamtbetrag der Einkünfte vor der Durchführung des Verlustabzugs (§ 2 Abs. 3 EStG) und danach (§ 2 Abs. 4 EStG) unterschieden werden muss.
Verlag Dr. Otto Schmidt
EStG § 2 Abs 3, § 10d Abs 1, § 10 Abs 4b S 3
Streitig war, ob ein negativer Gesamtbetrag der Einkünfte im Streitjahr einen Kirchensteuererstattungsüberhang ausgleicht, obwohl die im Streitjahr nicht ausgeglichenen negativen Einkünfte im unmittelbar vorangegangenen Veranlagungszeitraum in voller Höhe vom dortigen Gesamtbetrag der Einkünfte abgezogen worden sind (Verlustrücktrag).
Negative Einkünfte, die bei der Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte nicht ausgeglichen werden, sind in bestimmten Grenzen vom Gesamtbetrag der Einkünfte des unmittelbar vorangegangenen Zeitraums abzuziehen (§ 10d Abs. 1 EStG). Das Gesetz überschreibt damit die ursprüngliche zeitliche Zuordnung der betreffenden Einkünfte. Sie werden, soweit sie dort abgezogen werden, mit steuerlicher Wirkung in das Abzugsjahr "zurückgetragen".
§ 10d Abs. 1 EStG regelt nicht ausdrücklich, welche Auswirkungen der Verlustrücktrag im Entstehungsjahr hat. Die Frage ist weder gerichtlich entschieden noch wird sie, soweit ersichtlich, im Schrifttum erörtert. Ist der Gesamtbetrag der Einkünfte im Entstehungsjahr vor dem Verlustrücktrag negativ, wirkt es sich auf die Ermittlung des Einkommens und die Höhe der festzusetzenden Steuer nicht aus, ob er nach dem Verlustrücktrag um den zurückgetragenen Betrag und gegebenenfalls bis auf null Euro erhöht wird. Anders ist dies, wenn, wie im Streitfall, ein Hinzurechnungsbetrag nach § 10 Abs. 4b Satz 3 EStG das Einkommen erhöht. Dann stellt sich die Frage, ob der negative Gesamtbetrag der Einkünfte im Entstehungsjahr ungeachtet des Verlustrücktrags weiterhin die Grundlage für die Ermittlung des Einkommens im Entstehungsjahr bildet und den Hinzurechnungsbetrag, der sich steuererhöhend auswirkt, mindert.
Der BFH hat diese Frage verneint. Negative Einkünfte sind, soweit sie nach § 10d Abs. 1 EStG zurückgetragen worden sind, zeitlich nicht mehr dem Entstehungsjahr zuzuordnen und bilden demzufolge auch nicht (mehr) die Grundlage für die Ermittlung des Einkommens im Entstehungsjahr. Für den Gesamtbetrag der Einkünfte im Entstehungsjahr bedeutet dies, dass er nach Durchführung des Verlustrücktrags um den Betrag der zurückgetragenen Einkünfte zu erhöhen ist.
Sind die im Entstehungsjahr nicht ausgeglichenen negativen Einkünfte in voller Höhe zurückgetragen worden, beträgt der Gesamtbetrag der Einkünfte im Entstehungsjahr nach der Durchführung des Verlustrücktrags null Euro. Das ist die Folge der materiell-rechtlichen Konzeption des § 10d Abs. 1 EStG und der Grundregeln der periodengerechten Einkommensermittlung. Die in zeitlicher Hinsicht ursprünglich dem Entstehungsjahr zuzuordnenden Einkünfte werden unter den Voraussetzungen des § 10d Abs. 1 EStG dem Rücktragsjahr zugeordnet und dort berücksichtigt. Das bedeutet, dass sie im Rücktragsjahr eine Ausgangsgröße (Besteuerungsgrundlage) für die Ermittlung des im Rücktragsjahr wirksam werdenden Verlustabzugs bilden.
Dadurch wird eine vom Grundfall abweichende, eindeutige zeitliche Zuordnung bewirkt, die es wie die ursprüngliche zeitliche Zuordnung ausschließt, dass die betroffenen Besteuerungsgrundlagen zugleich in einem anderen Besteuerungsabschnitt berücksichtigt werden. Denn die zugrunde liegende Annahme, dass ein besteuerungsrelevanter Sachverhalt bei der Ermittlung des Einkommens nur einmal, das heißt in einer bestimmten Periode, und nicht zugleich in einer anderen Periode berücksichtigt werden kann, wird durch die von § 10d Abs. 1 EStG materiell-rechtlich geänderte zeitliche Zuordnung nicht infrage gestellt, sondern bestätigt.
Die eindeutige zeitliche Zuordnung aller Besteuerungsgrundlagen ermöglicht es nicht nur, das Einkommen periodengerecht zu ermitteln; sie bezweckt zugleich, Doppel- und Mehrfachberücksichtigungen auszuschließen. Dies ist notwendig, um den relevanten Zuwachs an finanzieller Leistungsfähigkeit gleichmäßig und sachgerecht ermitteln zu können.
Diese Wirkungsweise des Verlustabzugs zeigt sich auch darin, dass nach § 10d Abs. 1 EStG nur die "nicht ausgeglichenen" negativen Einkünfte zurückgetragen werden können. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass negative Einkünfte, soweit sie im Entstehungsjahr ausgeglichen worden sind, für den Rücktrag nicht zur Verfügung stehen. Sie sind im Entstehungsjahr wirksam geworden und durch den Ausgleich "verbraucht". Insofern verbleibt es bei der ursprünglichen zeitlichen Zuordnung.
Entsprechendes muss gelten, soweit es zum Rücktrag, das heißt zu einer abweichenden zeitlichen Zuordnung der betreffenden Besteuerungsgrundlagen, kommt: Sie wirken sich dann (nur noch) im Rücktragsjahr aus und sind danach für eine weitere Berücksichtigung im Entstehungsjahr wie auch für den Verlustvortrag "verbraucht".
Verfahrensrechtliche Folge davon ist, dass über Grund und Höhe des Verlustrücktrags im Rücktragsjahr zu entscheiden ist, wo sich der Verlustrücktrag auswirkt. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die im Streitfall umstrittene Hinzurechnung nach § 10 Abs. 4b Satz 3 EStG nicht bei der Ermittlung der Summe der Einkünfte beziehungsweise des Gesamtbetrags der Einkünfte, sondern bei der Ermittlung des Einkommens ansetzt. Zwar bildet nach § 2 Abs. 4 EStG der Gesamtbetrag der Einkünfte den Ausgangspunkt für die weitere Ermittlung des Einkommens. Die Vorschrift knüpft damit begrifflich an § 2 Abs. 3 EStG an. Die durch den Verlustrücktrag nach § 10d Abs. 1 EStG bewirkte Veränderung dieser Größe ist jedoch nicht etwa systemfremd, sondern dem Umstand geschuldet, dass der Verlustabzug nach § 10d EStG in dem durch § 2 EStG vorgegebenen Schema der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens zwischen § 2 Abs. 3 und Abs. 4 EStG zu verorten ist. Zwar bezieht sich die Formulierung "vorrangig vor Sonderausgaben" in § 10d Abs. 1 EStG auf das Rücktragsjahr. Für den Verlustvortrag gilt aber Entsprechendes. Auch er wird "vorrangig vor Sonderausgaben" abgezogen (§ 10d Abs. 2 Satz 1 EStG).
In der Zusammenschau kommt verallgemeinerbar zum Ausdruck, an welcher Stelle im Schema des § 2 EStG der Verlustabzug durchzuführen ist. Für das Entstehungsjahr kann insofern nichts anderes gelten. Allerdings ist der Wortlaut des § 2 EStG insofern unscharf, als begrifflich zwischen dem Gesamtbetrag der Einkünfte vor der Durchführung des Verlustabzugs (§ 2 Abs. 3 EStG) und danach (§ 2 Abs. 4 EStG) unterschieden werden muss.