Vernichtung von Akten ist keine Entschuldigung
FG Rheinland-Pfalz 16.6.2015, 5 K 1154/13Die Klägerin ist Rentnerin und wohnte bis 2007 in NRW. Das dort zuständige Finanzamt hatte eine ihrer Renten (90.000 € pro Jahr) nach Prüfung der dazu vorgelegten Unterlagen alljährlich nur mit dem Ertragsanteil von 17% der Besteuerung unterworfen. Nach dem Umzug der Klägerin nach Rheinland-Pfalz übernahm das zuständig gewordene Finanzamt Bad Neuenahr-Ahrweiler zunächst ungeprüft die Besteuerung der Klägerin und berücksichtigte die Rente ebenfalls nur mit 17 %.
Im Jahr 2012 erfuhr das Finanzamt Bad Neuenahr-Ahrweiler vom Finanzamt Düsseldorf im Wege einer sog. Kontrollmitteilung, dass die Rentenzahlungen vom Sohn der Klägerin stammten, dem die Klägerin dafür im Jahr 1993 ihr Vermögen übertragen hatte. Daraufhin änderte das Finanzamt Bad Neuenahr-Ahrweiler nachträglich die bereits bestandskräftigen Steuerbescheide für die Jahre 2007 bis 2010. Es war der Ansicht, dass diese Art von Rente in voller Höhe hätte besteuert werden müssen. Die geforderte Steuernachzahlung betrug insgesamt rund 140.000 €.
Das FG gab der hiergegen gerichteten Klage statt. Die Revision zum BFH wurde nicht zugelassen.
Die Gründe:
Im vorliegenden Fall war es unerheblich, ob die Rente tatsächlich in voller Höhe zu besteuern war. Schließlich war das beklagte Finanzamt Bad Neuenahr-Ahrweiler gar nicht befugt, die bereits bestandskräftigen Steuerbescheide zu ändern. Bereits vor Erlass dieser Bescheide hätte das Finanzamt nämlich die Rechtslage prüfen und z.B. beim früher zuständigen Finanzamt in NRW die seinerzeit dazu vorgelegten Unterlagen - vor allem den Übertragungsvertrag - anfordern müssen.
Selbst wenn der Übertragungsvertrag dort inzwischen archiviert oder mit Altakten vernichtet worden wäre, hätte sich das beklagte Finanzamt nicht auf Unkenntnis berufen können. Denn in diesem Fall hätte der Vertrag erneut von der Klägerin angefordert werden müssen. Die Klägerin hingegen traf kein Versäumnis, da sie die erhaltenen Zahlungen in gleicher Weise wie in den Vorjahren in ihren Einkommensteuererklärungen angegeben hatte.
Hintergrund:
Werden - wie im vorliegenden Fall - bestandskräftige Bescheide wegen (angeblich) neuer Tatsachen vom Finanzamt geändert, ist häufig streitig, ob das Finanzamt dazu verfahrensrechtlich überhaupt befugt ist. Dies ist etwa dann nicht der Fall, wenn das Finanzamt seiner Verpflichtung, vor Erlass eines Bescheides den Sachverhalt von Amts wegen ausreichend zu ermitteln, nicht bzw. nicht genügend nachgekommen ist. Zu dieser Ermittlungspflicht gehört es auch, archivierte Akten beizuziehen, wenn dazu Veranlassung besteht. Eine solche Veranlassung war hier aus folgendem Grund gegeben:
Bei dem Bezug von Rente handelt es sich um ein sog. "Dauersachverhalt", d.h. um einen Sachverhalt, der nicht nur in einem einzigen Jahr steuerlich relevant ist. Dennoch ist das Finanzamt berechtigt bzw. verpflichtet, in jedem neuen Veranlagungszeitraum den Sachverhalt erneut rechtlich zu prüfen. Stellt sich dabei heraus, dass das Finanzamt bisher eine unzutreffende Rechtsauffassung vertreten hat, darf bzw. muss das Finanzamt die neue Rechtsauffassung umsetzen und die Besteuerung für die Zukunft entsprechend ändern. Das Finanzamt Bad Neuenahr-Ahrweiler hätte daher nicht einfach die Rechtsauffassung des zuvor zuständigen Finanzamtes übernehmen dürfen, sondern hätte selbst unter Beiziehung der dafür erforderlichen Unterlagen eine rechtliche Würdigung vornehmen müssen.
Die Entscheidung des FG hat über den entschiedenen Einzelfall hinaus für alle "Dauersachverhalte" Bedeutung, d.h. auch für andere Einkunftsarten (Arbeitslohn, Vermietungseinkünfte, Kapitaleinkünfte usw.) oder andere Steuerarten (z.B. Gewerbe- oder Umsatzsteuer).