Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten
BFH v. 17.7.2019 - II B 30, 32-34, 38/18
Der Sachverhalt:
Die Klägerin lebte mehrere Jahre in eheähnlicher Gemeinschaft mit dem 2012 verstorbenen italienischen Staatsangehörigen X in der Schweiz. Bis Juni 2002 betrieb sie ein Einzelunternehmen und wurde wegen ihres Wohnsitzes in der im Inland angemieteten Wohnung bis 2002 als unbeschränkt steuerpflichtig zur Einkommensteuer veranlagt. Unter der Wohnungsadresse war sie beim Einwohnermeldeamt bis Ende 2011 mit Hauptwohnsitz gemeldet. Der X hatte die Klägerin als Alleinerbin eingesetzt. Im Testament wurde als Adresse der Klägerin die inländische Wohnung angegeben. Seit Januar 2012 ist die Klägerin bei der Schweizer Meldebehörde angemeldet. Die inländische Wohnung wurde durch einen Aufsichtsdienst betreut. Nach den Feststellungen des FG suchte dieser die Wohnung täglich auf, leerte regelmäßig den Briefkasten, stellte im Winter die Heizung an und führte alle anstehenden Arbeiten aus.
Nach Einleitung eines Steuerstrafverfahrens gegen die Klägerin u.a. wegen des Verdachts der Hinterziehung von Schenkungsteuer für den Zeitraum ab 2007 fand im Februar 2014 eine Durchsuchung der inländischen Wohnung durch die Steuerfahndung in Anwesenheit der Mitarbeiter des Aufsichtsdienstes statt. Im März 2015 erließ das Finanzamt dann mehrere Schenkungsteuerbescheide gegenüber der Klägerin. Die Behörde ging davon aus, dass die Erwerbe der unbeschränkten Steuerpflicht unterlägen. Schließlich habe die Klägerin einen inländischen Wohnsitz. Die Wohnung sei mit Festnetztelefon, Möbeln, Kleidung und Bad-Accessoires ausgestattet gewesen. Das nach den Ermittlungen der Steuerfahndung gefertigte Bewegungsprofil der Jahre 2004 bis 2013 zeige, dass die Klägerin während der maßgeblichen Zeiträume sich längere Zeit im Inland aufgehalten und hier ihren Lebensmittelpunkt gehabt habe.
Das FG hörte zu der Dauer und dem Umfang der Nutzung der inländischen Wohnung durch die Klägerin u.a. einen Mitarbeiter des Aufsichtsdienstes sowie Beamte der Steuerfahndung. Es wies die Klage ab und stützte seine Entscheidung maßgeblich auf eine Aussage des Mitarbeiters des Aufsichtsdienstes i.V.m. den Protokollen der Firma, wobei weder die protokollierten Bekundungen des Zeugen noch die in den Akten befindlichen Protokolle ergaben, dass die Klägerin von Februar bis Mai 2008 und ab August 2008 keine Kontrollen der inländischen Wohnung durchführen ließ.
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hob der BFH die Urteile des FG auf und wies die Sachen zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurück.
Gründe:
Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz FGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Zum Gesamtergebnis des Verfahrens gehört auch die Auswertung des Inhalts der dem Gericht vorliegenden Akten. Ein Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten liegt u.a. dann vor, wenn das FG eine nach Aktenlage feststehende Tatsache, die richtigerweise in die Beweiswürdigung hätte einfließen müssen, unberücksichtigt lässt oder seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde gelegt hat, der dem protokollierten Vorbringen der Beteiligten nicht entspricht. Entsprechendes gilt, wenn die Entscheidung des FG auf einer Zeugenaussage beruht, die mit den protokollierten Bekundungen eines Zeugen nicht im Einklang steht.
Im vorliegenden Fall lag ein derartiger Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten vor. Denn nach den Ausführungen des FG soll der Mitarbeiter des Aufsichtsdienstes bekundet haben, die Klägerin habe den täglichen Kontrolltermin stets für die Zeiträume abbestellt, in denen sie sich in ihrer Wohnung aufgehalten habe. Hieraus ergebe sich i.V.m. den Protokollen, dass die Klägerin vom 11.2.2008 bis 26.5.2008 und ab dem 19.8. 2008 keine Kontrollen ihrer Wohnung habe durchführen lassen. Dies widerspricht jedoch der im Protokoll zur mündlichen Verhandlung festgehaltenen Aussage des Mitarbeiters. Danach hatte dieser bekundet, die Kontrollen seien von der Klägerin telefonisch abgesagt worden, wenn sie in ihrer Wohnung anwesend gewesen sei. Wie oft dies der Fall gewesen sei, könne er nicht mehr sagen. Nicht protokolliert ist, dass die Abbestellung der Kontrolltermine "stets" erfolgt ist.
Die vom FG in die Würdigung einbezogenen Protokolle, die einen Nachweis über die Absage der Kontrolltermine durch die Klägerin bei ihrer Anwesenheit in der Wohnung für die maßgebliche Zeit darstellen sollen, befinden sich nicht bei den vorgelegten Akten. Abgeheftet sind nur Protokolle über Kontrollen ab 30.12.2008, die einen Rückschluss auf vorhergehende Zeiträume nicht zulassen. Protokolle über Kontrollbesuche der S in der Wohnung können jedoch für die Frage der An - oder Abwesenheit der Klägerin in ihrer inländischen Wohnung nur herangezogen werden, wenn sie vorliegen und aussagekräftig sind und sich die Klägerin dazu äußern konnte.
Die durch das FG angeführten Zeiträume im Jahr 2008, in denen die Klägerin stets die Kontrolltermine abgesagt haben und daher sich in ihrer Wohnung aufgehalten haben soll, waren für das FG entscheidungserheblich. Auf ihrer Grundlage nahm es an, die Klägerin habe die inländische Wohnung im Jahr 2008 in einem Umfang genutzt, der über einen bloßen Besuchscharakter hinausgehe. Daher habe sie weiterhin einen inländischen Wohnsitz gehabt und sei zumindest nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 Buchst. b ErbStG unbeschränkt steuerpflichtig gewesen. Es war daher nicht auszuschließen, dass das FG zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre, wenn es die Aussage des Mitarbeiters und die vermeintlichen Protokolle nicht berücksichtigt hätte.
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Die Klägerin lebte mehrere Jahre in eheähnlicher Gemeinschaft mit dem 2012 verstorbenen italienischen Staatsangehörigen X in der Schweiz. Bis Juni 2002 betrieb sie ein Einzelunternehmen und wurde wegen ihres Wohnsitzes in der im Inland angemieteten Wohnung bis 2002 als unbeschränkt steuerpflichtig zur Einkommensteuer veranlagt. Unter der Wohnungsadresse war sie beim Einwohnermeldeamt bis Ende 2011 mit Hauptwohnsitz gemeldet. Der X hatte die Klägerin als Alleinerbin eingesetzt. Im Testament wurde als Adresse der Klägerin die inländische Wohnung angegeben. Seit Januar 2012 ist die Klägerin bei der Schweizer Meldebehörde angemeldet. Die inländische Wohnung wurde durch einen Aufsichtsdienst betreut. Nach den Feststellungen des FG suchte dieser die Wohnung täglich auf, leerte regelmäßig den Briefkasten, stellte im Winter die Heizung an und führte alle anstehenden Arbeiten aus.
Nach Einleitung eines Steuerstrafverfahrens gegen die Klägerin u.a. wegen des Verdachts der Hinterziehung von Schenkungsteuer für den Zeitraum ab 2007 fand im Februar 2014 eine Durchsuchung der inländischen Wohnung durch die Steuerfahndung in Anwesenheit der Mitarbeiter des Aufsichtsdienstes statt. Im März 2015 erließ das Finanzamt dann mehrere Schenkungsteuerbescheide gegenüber der Klägerin. Die Behörde ging davon aus, dass die Erwerbe der unbeschränkten Steuerpflicht unterlägen. Schließlich habe die Klägerin einen inländischen Wohnsitz. Die Wohnung sei mit Festnetztelefon, Möbeln, Kleidung und Bad-Accessoires ausgestattet gewesen. Das nach den Ermittlungen der Steuerfahndung gefertigte Bewegungsprofil der Jahre 2004 bis 2013 zeige, dass die Klägerin während der maßgeblichen Zeiträume sich längere Zeit im Inland aufgehalten und hier ihren Lebensmittelpunkt gehabt habe.
Das FG hörte zu der Dauer und dem Umfang der Nutzung der inländischen Wohnung durch die Klägerin u.a. einen Mitarbeiter des Aufsichtsdienstes sowie Beamte der Steuerfahndung. Es wies die Klage ab und stützte seine Entscheidung maßgeblich auf eine Aussage des Mitarbeiters des Aufsichtsdienstes i.V.m. den Protokollen der Firma, wobei weder die protokollierten Bekundungen des Zeugen noch die in den Akten befindlichen Protokolle ergaben, dass die Klägerin von Februar bis Mai 2008 und ab August 2008 keine Kontrollen der inländischen Wohnung durchführen ließ.
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hob der BFH die Urteile des FG auf und wies die Sachen zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurück.
Gründe:
Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz FGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Zum Gesamtergebnis des Verfahrens gehört auch die Auswertung des Inhalts der dem Gericht vorliegenden Akten. Ein Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten liegt u.a. dann vor, wenn das FG eine nach Aktenlage feststehende Tatsache, die richtigerweise in die Beweiswürdigung hätte einfließen müssen, unberücksichtigt lässt oder seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde gelegt hat, der dem protokollierten Vorbringen der Beteiligten nicht entspricht. Entsprechendes gilt, wenn die Entscheidung des FG auf einer Zeugenaussage beruht, die mit den protokollierten Bekundungen eines Zeugen nicht im Einklang steht.
Im vorliegenden Fall lag ein derartiger Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten vor. Denn nach den Ausführungen des FG soll der Mitarbeiter des Aufsichtsdienstes bekundet haben, die Klägerin habe den täglichen Kontrolltermin stets für die Zeiträume abbestellt, in denen sie sich in ihrer Wohnung aufgehalten habe. Hieraus ergebe sich i.V.m. den Protokollen, dass die Klägerin vom 11.2.2008 bis 26.5.2008 und ab dem 19.8. 2008 keine Kontrollen ihrer Wohnung habe durchführen lassen. Dies widerspricht jedoch der im Protokoll zur mündlichen Verhandlung festgehaltenen Aussage des Mitarbeiters. Danach hatte dieser bekundet, die Kontrollen seien von der Klägerin telefonisch abgesagt worden, wenn sie in ihrer Wohnung anwesend gewesen sei. Wie oft dies der Fall gewesen sei, könne er nicht mehr sagen. Nicht protokolliert ist, dass die Abbestellung der Kontrolltermine "stets" erfolgt ist.
Die vom FG in die Würdigung einbezogenen Protokolle, die einen Nachweis über die Absage der Kontrolltermine durch die Klägerin bei ihrer Anwesenheit in der Wohnung für die maßgebliche Zeit darstellen sollen, befinden sich nicht bei den vorgelegten Akten. Abgeheftet sind nur Protokolle über Kontrollen ab 30.12.2008, die einen Rückschluss auf vorhergehende Zeiträume nicht zulassen. Protokolle über Kontrollbesuche der S in der Wohnung können jedoch für die Frage der An - oder Abwesenheit der Klägerin in ihrer inländischen Wohnung nur herangezogen werden, wenn sie vorliegen und aussagekräftig sind und sich die Klägerin dazu äußern konnte.
Die durch das FG angeführten Zeiträume im Jahr 2008, in denen die Klägerin stets die Kontrolltermine abgesagt haben und daher sich in ihrer Wohnung aufgehalten haben soll, waren für das FG entscheidungserheblich. Auf ihrer Grundlage nahm es an, die Klägerin habe die inländische Wohnung im Jahr 2008 in einem Umfang genutzt, der über einen bloßen Besuchscharakter hinausgehe. Daher habe sie weiterhin einen inländischen Wohnsitz gehabt und sei zumindest nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 Buchst. b ErbStG unbeschränkt steuerpflichtig gewesen. Es war daher nicht auszuschließen, dass das FG zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre, wenn es die Aussage des Mitarbeiters und die vermeintlichen Protokolle nicht berücksichtigt hätte.
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