21.09.2023

Vertrauensschutz bei rechtswidrigem Verwaltungshandeln

1. Nimmt der Umsatzsteuerjahresbescheid den Regelungsgehalt vorheriger Voranmeldungsfestsetzungen in sich auf, ist für die Prüfung, zu welchem Zeitpunkt die in § 176 Abs. 2 AO genannte allgemeine Verwaltungsvorschrift als nicht mit dem geltenden Recht in Einklang stehend bezeichnet wurde, auf die jeweilige Voranmeldungsfestsetzung abzustellen.
2. Es besteht keine Änderungsbefugnis nach § 27 Abs. 19 UStG, wenn der Organträger einer Bauleistungen erbringenden Organgesellschaft keinen Anspruch der Organgesellschaft gegen den Leistungsempfänger abtreten kann, da über das Vermögen der Organgesellschaft das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist.

Kurzbesprechung
BFH v. 6.7.2023 - V R 5/21

UStG § 2 Abs 2 Nr. 2, § 18 Abs 1, § 18 Abs 3, § 27 Abs 19
AO § 176 Abs 2
EGRL 112/2006 Art 252 Abs 2, 112/2006 Art 261 Abs 1


Im Streitfall ging es um die Frage, ob das FA zu einer Änderung der Umsatzsteuerjahresfestsetzung 2012 nach § 164 Abs. 2 AO berechtigt war. Der BFH entschied, dass das FA die Steuerfestsetzung nicht hätte ändern dürfen, da es sowohl durch § 176 Abs. 2 AO daran gehindert war als auch die Voraussetzungen des § 27 Abs. 19 UStG nicht vorlagen.

§ 176 Abs. 2 AO

Der Änderung nach § 164 Abs. 2 AO stand im Streitfall § 176 Abs. 2 AO entgegen. Danach darf bei der Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, dass eine allgemeine Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung, einer obersten Bundes- oder Landesbehörde von einem obersten Gerichtshof des Bundes als nicht mit dem geltenden Recht in Einklang stehend bezeichnet worden ist. Diese Voraussetzungen lagen im Streitfall vor, Vertrauensschutz gemäß § 176 AO besteht auch bei formell bestandskräftigen Bescheiden, die unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangen sind.

Die nach § 176 Abs. 2 AO erforderliche Bezeichnung einer allgemeinen Verwaltungsvorschrift als nicht mit dem geltenden Recht in Einklang stehend ergab sich im Streitfall aus der Entscheidung des BFH v. 22.08.2013 - V R 37/10, BStBl II 2014, 128. Die maßgebende Verwaltungsvorschrift (Abschn. 182a Abs. 11 der Umsatzsteuer-Richtlinien 2005 und später Abschn. 13.b.3 Abs. 8 Satz 4 ff. des Umsatzsteuer-Anwendungserlasses i.d.F. vor der Änderung durch das BMF-Schreiben vom 05.02.2014, BStBl I 2014, 233) lag den zu einer Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung führenden Umsatzsteuerjahreserklärungen der Steuerpflichtigen zugrunde. Die Steuerpflichtige ging dabei entsprechend dieser Verwaltungsauffassung für die Erbringung von Bauleistungen an einen Bauträger unter den dort bezeichneten Voraussetzungen von dessen Steuerschuldnerschaft als Leistungsempfänger aus.

Der Anwendung von § 176 Abs. 2 AO steht auch nicht entgegen, dass der BFH mit seiner vorgenannten Entscheidung die Verwaltungsauffassung bereits vor der ersten Umsatzsteuerjahresfestsetzung als nicht mit dem geltenden Recht in Einklang stehend bezeichnet hatte.

§ 27 Abs. 19 UStG

Das FA war auch nicht zu einer Änderung der Umsatzsteuerfestsetzung nach § 27 Abs. 19 Satz 1 UStG berechtigt. Diese Vorschrift eröffnet keine Änderungsbefugnis, wenn der Organträger einer Bauleistungen erbringenden Organgesellschaft keinen Anspruch der Organgesellschaft gegen den Leistungsempfänger abtreten kann, da über das Vermögen der Organgesellschaft das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist.

Sind Unternehmer und Leistungsempfänger davon ausgegangen, dass der Leistungsempfänger die Steuer nach § 13b UStG auf eine vor dem 15.02.2014 erbrachte steuerpflichtige Leistung schuldet und stellt sich diese Annahme als unrichtig heraus, ist gemäß § 27 Abs. 19 Satz 1 UStG die gegen den leistenden Unternehmer wirkende Steuerfestsetzung zu ändern, soweit der Leistungsempfänger die Erstattung der Steuer fordert, die er in der Annahme entrichtet hatte, Steuerschuldner zu sein.

Eine Umsatzsteuerfestsetzung kann nach § 27 Abs. 19 Satz 1 UStG gegenüber dem leistenden Unternehmer jedoch nur dann geändert werden, wenn ihm ein abtretbarer Anspruch auf Zahlung der gesetzlich entstandenen Umsatzsteuer gegen den Leistungsempfänger zusteht. Ist bei einer Organschaft die Bauleistungen erbringende Organgesellschaft irrtümlich von einer Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers ausgegangen, ist für die erforderliche Prüfung, ob der zivilrechtliche Anspruch der Organgesellschaft auf Zahlung der gesetzlich entstandenen Umsatzsteuer gegen den Leistungsempfänger "abtretbar" ist, im Grundsatz auf den Organträger abzustellen, der umsatzsteuerrechtlich gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG als Leistender hinsichtlich der Bauleistungen anzusehen ist.

Im Fall einer bestehenden Organschaft, bei der das der Leistungserbringung zugrunde liegende Rechtsverhältnis, das den Anspruch auf die Gegenleistung begründet, zum Leistungsempfänger über eine Organgesellschaft vorliegt, ist im Allgemeinen davon auszugehen, dass der Organträger im Rahmen der für ihn aufgrund der Eingliederung bestehenden Einwirkungsmöglichkeiten auf eine Anspruchsabtretung durch die Organgesellschaft hinwirken kann. Diese Möglichkeit besteht aber bei einer zwischenzeitlichen Insolvenzeröffnung über das Vermögen der Organgesellschaft nicht.

Unabhängig davon, dass es hierdurch zur Beendigung der Organschaft kommt, kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Insolvenzverwalter einen werthaltigen, der Masse zustehenden Anspruch durch Abtretung aufgibt. Daher schied im Streitfall eine Änderung gemäß § 27 Abs. 19 Satz 1 UStG zu Lasten des Organträgers aus. Das von der Vorschrift verfolgte Regelungsziel, eine Änderung zu Lasten des leistenden Unternehmers deshalb zu ermöglichen, da ihm aufgrund einer Anspruchsabtretung an das FA kein Nachteil erwächst, wobei das FA die Nachforderung durch die Durchsetzung der ihm abgetretenen Forderung tilgen kann, versagt in derartigen Fällen.

Hinweis: Der BFH brauchte nicht darüber zu entscheiden, ob das FA, hätte es das Angebot auf Abtretung eines "Erstattungsanspruchs" gegen die Organgesellschaft angenommen, änderungsbefugt gewesen wäre.
Verlag Dr. Otto Schmidt
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