"Videokonferenz" und gesetzlicher Richter
Kurzbesprechung
BFH-Beschluss v. 30.6.2023 - V B 13/22
FGO § 91a Abs 1, § 119 Nr. 1, § 155 S 1
GG Art 101 Abs 1 S 2
ZPO § 295
Vorschriftsmäßig besetzt ist das erkennende Gericht, wenn jeder an der Verhandlung und Entscheidung beteiligte Richter die zur Ausübung des Richteramts erforderliche Fähigkeit besitzt, die wesentlichen Vorgänge der Verhandlung wahrzunehmen und in sich aufzunehmen. Die beteiligten Richter müssen körperlich und geistig in der Lage sein, der Verhandlung in ihren wesentlichen Abschnitten zu folgen. Nur wenn jeder Richter die wesentlichen Vorgänge aufnimmt, ist er in der Lage, seine Überzeugung aus dem Gesamtergebnis der Verhandlung zu gewinnen (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO), selbständig zu urteilen und so an einer sachgerechten Entscheidung mitzuwirken.
Ein Richter, der in der mündlichen Verhandlung für eine nicht nur unerhebliche Zeit einschläft, ist abwesend, wenn er dadurch wesentlichen Vorgängen nicht mehr folgen kann, so dass das erkennende Gericht dann nicht mehr im Sinne von § 119 Nr. 1 FGO vorschriftsmäßig besetzt ist. Ebenso ist es, wenn einer der zur Entscheidung berufenen Richter nach der Eröffnung der mündlichen Verhandlung eingetroffen ist und seinen Platz auf der Richterbank erst eingenommen hat, nachdem der Berichterstatter bereits mit dem Vortrag des Sachverhalts begonnen hatte, so dass der erst später eintreffende Richter wesentliche Vorgänge der Verhandlung nicht wahrgenommen hat.
Das Erfordernis der vorschriftsmäßigen Besetzung im Sinne von § 119 Nr. 1 FGO ist auch bei sogenannten "Videokonferenzen" auf der Grundlage des § 91a FGO zu beachten. Die "Videoübertragungstechnik" soll auf der Grundlage dieser Vorschrift "ohne Verlust an rechtsstaatlicher Qualität" genutzt werden. Um einem derartigen Verlust entgegenzuwirken, muss es die gemäß § 91a Abs. 1 Satz 2 FGO vorgesehene Übertragung der "Verhandlung" in Bild und Ton an den in § 91a Abs. 1 Satz 1 FGO genannten anderen Ort ermöglichen, dass die dort anwesenden Beteiligten die vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts und damit die Anwesenheit aller Mitglieder des Spruchkörpers feststellen können.
Dies erfordert, dass alle zur Entscheidung berufenen Richter während der "Videokonferenz" für die lediglich "zugeschalteten" Beteiligten sichtbar sind. Nicht zulässig ist es daher, den alleinigen Bildausschnitt auf einzelne Richter ‑ etwa den Vorsitzenden ‑ zu beschränken. "Zugeschaltete" Prozessbeteiligte müssen vielmehr alle Richter sehen und hören können. Wie dies gewährleistet wird, ist Sache des Gerichts, das die Gestattung nach § 91a Abs. 1 Satz 1 FGO erteilt.
Gestattet ein FG daher gemäß § 91a FGO den Beteiligten, ihren Bevollmächtigten und Beiständen auf Antrag oder von Amts wegen, sich während einer mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen, entbindet dies nicht von der Verpflichtung, die vorschriftsmäßige Gerichtsbesetzung in einer Weise zu gewährleisten, die dem Vertrauen der Rechtsuchenden in die Sachlichkeit der Gerichte hinreichend Rechnung trägt. Daher muss für die Beteiligten im Fall einer sogenannten "Videokonferenz" im Rahmen der vom Gericht technisch veranlassten zeitgleichen Bild- und Tonübertragung nach § 91a Abs. 1 FGO ‑ähnlich wie bei einer körperlichen Anwesenheit im Verhandlungssaal ‑ feststellbar sein, ob die beteiligten Richter körperlich und geistig in der Lage sind, der Verhandlung in ihren wesentlichen Abschnitten zu folgen oder ob einer oder mehrere von ihnen während der Verhandlung eingeschlafen ist oder sind, erst verspätet auf der Richterbank Platz genommen oder diese vorübergehend oder vorzeitig verlassen hat oder haben.
Im Streitfall war das FG nicht im Sinne von § 119 Nr. 1 FGO vorschriftsmäßig besetzt, da für die nicht im Gerichtssaal anwesenden Beteiligten entweder die Gesamtbesetzung des Senats oder nur ein Teil seiner Besetzung oder aber nur derjenige Richter, der aktuell das Wort geführt hatte, zu sehen gewesen war. Der Vorsitzende Richter war für circa zwei Drittel der Dauer der insgesamt circa 90-minütigen mündlichen Verhandlung im Bild zu sehen gewesen, in dieser Zeit jedoch nicht die Richterbank mit den übrigen Richtern.
Da auf die Beachtung der Vorschriften über die Besetzung des Gerichts nicht nach § 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 295 ZPO wirksam verzichtet werden kann, hob der BFH die Entscheidung der Vorinstanz auf und verwies den Streitfall an das FG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurück.
Verlag Dr. Otto Schmidt
FGO § 91a Abs 1, § 119 Nr. 1, § 155 S 1
GG Art 101 Abs 1 S 2
ZPO § 295
Vorschriftsmäßig besetzt ist das erkennende Gericht, wenn jeder an der Verhandlung und Entscheidung beteiligte Richter die zur Ausübung des Richteramts erforderliche Fähigkeit besitzt, die wesentlichen Vorgänge der Verhandlung wahrzunehmen und in sich aufzunehmen. Die beteiligten Richter müssen körperlich und geistig in der Lage sein, der Verhandlung in ihren wesentlichen Abschnitten zu folgen. Nur wenn jeder Richter die wesentlichen Vorgänge aufnimmt, ist er in der Lage, seine Überzeugung aus dem Gesamtergebnis der Verhandlung zu gewinnen (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO), selbständig zu urteilen und so an einer sachgerechten Entscheidung mitzuwirken.
Ein Richter, der in der mündlichen Verhandlung für eine nicht nur unerhebliche Zeit einschläft, ist abwesend, wenn er dadurch wesentlichen Vorgängen nicht mehr folgen kann, so dass das erkennende Gericht dann nicht mehr im Sinne von § 119 Nr. 1 FGO vorschriftsmäßig besetzt ist. Ebenso ist es, wenn einer der zur Entscheidung berufenen Richter nach der Eröffnung der mündlichen Verhandlung eingetroffen ist und seinen Platz auf der Richterbank erst eingenommen hat, nachdem der Berichterstatter bereits mit dem Vortrag des Sachverhalts begonnen hatte, so dass der erst später eintreffende Richter wesentliche Vorgänge der Verhandlung nicht wahrgenommen hat.
Das Erfordernis der vorschriftsmäßigen Besetzung im Sinne von § 119 Nr. 1 FGO ist auch bei sogenannten "Videokonferenzen" auf der Grundlage des § 91a FGO zu beachten. Die "Videoübertragungstechnik" soll auf der Grundlage dieser Vorschrift "ohne Verlust an rechtsstaatlicher Qualität" genutzt werden. Um einem derartigen Verlust entgegenzuwirken, muss es die gemäß § 91a Abs. 1 Satz 2 FGO vorgesehene Übertragung der "Verhandlung" in Bild und Ton an den in § 91a Abs. 1 Satz 1 FGO genannten anderen Ort ermöglichen, dass die dort anwesenden Beteiligten die vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts und damit die Anwesenheit aller Mitglieder des Spruchkörpers feststellen können.
Dies erfordert, dass alle zur Entscheidung berufenen Richter während der "Videokonferenz" für die lediglich "zugeschalteten" Beteiligten sichtbar sind. Nicht zulässig ist es daher, den alleinigen Bildausschnitt auf einzelne Richter ‑ etwa den Vorsitzenden ‑ zu beschränken. "Zugeschaltete" Prozessbeteiligte müssen vielmehr alle Richter sehen und hören können. Wie dies gewährleistet wird, ist Sache des Gerichts, das die Gestattung nach § 91a Abs. 1 Satz 1 FGO erteilt.
Gestattet ein FG daher gemäß § 91a FGO den Beteiligten, ihren Bevollmächtigten und Beiständen auf Antrag oder von Amts wegen, sich während einer mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen, entbindet dies nicht von der Verpflichtung, die vorschriftsmäßige Gerichtsbesetzung in einer Weise zu gewährleisten, die dem Vertrauen der Rechtsuchenden in die Sachlichkeit der Gerichte hinreichend Rechnung trägt. Daher muss für die Beteiligten im Fall einer sogenannten "Videokonferenz" im Rahmen der vom Gericht technisch veranlassten zeitgleichen Bild- und Tonübertragung nach § 91a Abs. 1 FGO ‑ähnlich wie bei einer körperlichen Anwesenheit im Verhandlungssaal ‑ feststellbar sein, ob die beteiligten Richter körperlich und geistig in der Lage sind, der Verhandlung in ihren wesentlichen Abschnitten zu folgen oder ob einer oder mehrere von ihnen während der Verhandlung eingeschlafen ist oder sind, erst verspätet auf der Richterbank Platz genommen oder diese vorübergehend oder vorzeitig verlassen hat oder haben.
Im Streitfall war das FG nicht im Sinne von § 119 Nr. 1 FGO vorschriftsmäßig besetzt, da für die nicht im Gerichtssaal anwesenden Beteiligten entweder die Gesamtbesetzung des Senats oder nur ein Teil seiner Besetzung oder aber nur derjenige Richter, der aktuell das Wort geführt hatte, zu sehen gewesen war. Der Vorsitzende Richter war für circa zwei Drittel der Dauer der insgesamt circa 90-minütigen mündlichen Verhandlung im Bild zu sehen gewesen, in dieser Zeit jedoch nicht die Richterbank mit den übrigen Richtern.
Da auf die Beachtung der Vorschriften über die Besetzung des Gerichts nicht nach § 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 295 ZPO wirksam verzichtet werden kann, hob der BFH die Entscheidung der Vorinstanz auf und verwies den Streitfall an das FG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurück.