Vorrangiger Kindergeldanspruch des im anderen EU-Mitgliedstaat wohnenden Pflegeelternteils
BFH 15.6.2016, III R 60/12Streitig ist der Kindergeldanspruch für den in Polen lebenden Sohn des Klägers von Januar 2007 bis November 2011. Der Kläger ist polnischer Staatsangehöriger. Er ist der Vater einer im Dezember 1988 geborenen Tochter (T) und eines im Februar 1995 geborenen Sohnes (S). S lebt im Haushalt der Schwester und des Schwagers des Klägers in Polen. Der Kläger wohnt seit dem Jahr 2005 in Deutschland und ist dort als selbständiger Unternehmer tätig. Die Kindsmutter wohnt in Großbritannien. Die beklagte Familienkasse lehnte den Kindergeldantrag des Klägers für seine beiden Kinder durch Bescheid von 2011 ab.
Das FG gab der hiergegen gerichteten Klage teilweise statt und verpflichte die Familienkasse zur Kindergeldfestsetzung für T von Januar 2007 bis Juni 2008 und für S ab Januar 2007. Auf die Revision der Familienkasse hob der BFH das Urteil auf und verwies die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurück.
Die Gründe:
Die Feststellungen des FG genügen nicht, um beurteilen zu können, ob für den Zeitraum Januar 2007 bis April 2010 konkurrierende Ansprüche der Schwester oder des Schwagers des Klägers und der Kindsmutter bestehen und diese den Anspruch des Klägers ganz oder teilweise ausschließen.
Nach § 64 Abs. 1 EStG wird für jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 S. 1 EStG). Im Streitfall könnte sich die Anspruchsberechtigung der Schwester oder des Schwagers aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG ergeben. Zwar liegt der nach dieser Vorschrift erforderliche Inlandswohnsitz tatsächlich nicht vor. Es finden jedoch die Vorschriften der VO Nr. 883/2004 und der VO Nr. 987/2009 Anwendung. Dadurch könnte gem. Art. 67 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 S. 2 der VO Nr. 987/2009 ein Inlandswohnsitz der Schwester oder des Schwagers fingiert werden. Insoweit ist vom FG im zweiten Rechtsgang jedoch noch zu klären, ob die Schwester oder der Schwager des Klägers die Pflegeelterneigenschaft und alle übrigen Voraussetzungen für eine vorrangige Anspruchsberechtigung erfüllen.
Der Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 ist im Streitfall eröffnet und Deutschland ist danach der zuständige Mitgliedstaat. Der Kläger ist polnischer Staatsangehöriger und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung. Ebenso ist das Kindergeld nach dem EStG eine Familienleistung i.S.d. Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004, weshalb auch deren sachlicher Anwendungsbereich nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004 eröffnet ist. Gem. Art. 11 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 unterliegen die von der Verordnung erfassten Personen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Da der Kläger im Streitzeitraum eine selbständige Erwerbstätigkeit in Deutschland ausgeübt hat, unterlag er den deutschen Rechtsvorschriften (Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der VO Nr. 883/2004).
Zu den "beteiligten Personen" i.S.d. Art. 60 Abs. 1 S. 2 der VO Nr. 987/2009 gehören die "Familienangehörigen" i.S.d. Art. 1 Buchst. i Nr. 1 Buchst. i der VO Nr. 883/2004. Da das Kindergeldrecht nach dem EStG den Begriff des Familienangehörigen weder verwendet noch definiert, sind hierunter neben den Elternteilen und dem Kind auch alle Personen zu verstehen, die nach nationalem Recht berechtigt sind, Anspruch auf diese Leistungen zu erheben. Daher werden von diesem Begriff nach § 62 Abs. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG auch Personen erfasst, die ein Kind als Pflegekind in ihren Haushalt aufgenommen haben.
Das FG wird im zweiten Rechtsgang jedoch noch aufzuklären haben, ob die Schwester oder der Schwager des Klägers im Streitzeitraum Mai 2010 bis November 2011 in einem Pflegekindschaftsverhältnis zu S standen. Insoweit ist nicht entscheidend, ob sie nach polnischem Recht als Pflegeeltern bestellt wurden. Es kommt vielmehr darauf an, ob sie die nach deutschem Recht erforderlichen Voraussetzungen erfüllen. Allerdings hängt das Bestehen eines Pflegekindschaftsverhältnisses nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG u.a. davon ab, dass das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu beiden Elternteilen nicht mehr besteht, was jedenfalls vom Kläger in Bezug auf seine Person bestritten wird.
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