Zum Billigkeitserlass von Nachzahlungszinsen
BFH 31.5.2017, I R 92/15Zwischen den Beteiligten ist streitig, in welchem Umfang festgesetzte Nachzahlungszinsen wegen sachlicher Unbilligkeit zu erlassen sind. Die Klägerin, eine Kapitalgesellschaft, teilte dem Finanzamt schriftlich mit, dass aufgrund einer laufenden Betriebsprüfung Körperschaftsteuernachzahlungen zu erwarten seien. Sie kündigte eine freiwillige Körperschaftsteuerzahlung in entsprechender Höhe für die Jahre 1998 bis 2000 an. Der Betrag wurde am 30.4.2007 auf einem Konto der Finanzbehörde gutgeschrieben und von dieser angenommen. Nach Abschluss der Betriebsprüfung erließ das Finanzamt geänderte Körperschaftsteuerbescheide für die Jahre 1998 bis 2000 und setzte unter dem Datum des 26.11.2010 Steuern sowie Nachzahlungszinsen gem. § 233a AO fest.
Wenige Tage später beantragte die Klägerin auf der Grundlage von Nr. 70.1.1 S. 2 AEAO zu § 233a AO aus sachlichen Billigkeitsgründen den Erlass von Nachzahlungszinsen zur Körperschaftsteuer 1998 bis 2000. Zur Begründung verwies sie auf ihre freiwillige Leistung im April 2007. Die Klägerin ging hierbei davon aus, dass Zinsen für 43 volle Monate im Zeitraum 30.4.2007 bis zum 29.11.2010 zu erlassen sind. Bei ihrer Berechnung bezog sie den Zahlungstag 30.4.2007 vollständig ein. Unter Einschluss des Tages des Wirksamwerdens der Steuerfestsetzung - Bekanntgabe gem. § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO - am 29.11.2010 seien exakt 43 volle Monate erreicht.
Das Finanzamt gab diesem Antrag nur teilweise statt. In seinen Bescheiden über eine abweichende Festsetzung der Zinsen zur Körperschaftsteuer für 1998, 1999 und 2000 aus Billigkeitsgründen ging es von einem erlassfähigen aus, den es auf der Grundlage von 42 vollen Zinsmonaten ermittelt hatte. Nach den Beispielen 14 und 15 zu Nr. 70.1.2 AEAO zu § 233a beginne der "fiktive Zinslauf", der über das Ausmaß der zu erlassenden Zinsen entscheide, erst am Tage nach der Zahlung. Folglich gehe es um den Zeitraum vom 1.5.2007 bis zum 29.11.2010. Für das Erreichen des vollen 43. Monats fehle damit ein Tag.
Das FG gab der hiergegen gerichteten Klage statt. Die Revision des Finanzamts hatte vor dem BFH keinen Erfolg.
Die Gründe:
Das FG hat ohne Rechtsfehler dahin erkannt, dass die Bescheide vom 8.7.2011 über die abweichende Zinsfestsetzung aus Billigkeitsgründen rechtswidrig sind, weil das Finanzamt i.S.d. § 102 FGO ermessensfehlerhaft gehandelt hat. Denn es ist nicht ermessensgerecht, für den Beginn des "fiktiven Zinslaufs" nicht auf den Tag der freiwilligen Zahlung, sondern erst auf den Folgetag abzustellen.
Ein Erlass der Nachzahlungszinsen in Höhe vergleichbar berechneter Zinsen ist eine mögliche Ermessensausübung. Die freiwillige Leistung der - ermittelten, aber noch nicht festgesetzten - Steuer hat zur Folge, dass die Steuer im Zeitraum zwischen angenommener Zahlung und Festsetzung überzahlt ist. Es besteht ein Guthaben zugunsten des Steuerpflichtigen. Sachgerecht ist dann, wenn Zinsen für den überzahlten Betrag ("fiktive Erstattungszinsen") berechnet und im Erlasswege dadurch berücksichtigt werden, dass in Höhe der "fiktiven Erstattungszinsen" die Nachzahlungszinsen reduziert werden. Es ist allerdings nicht sachgerecht und keine rechtmäßige Ermessensausübung, bei der Berechnung des Erlassbetrages den Zinslauf der "fiktiven Erstattungszinsen" ("fiktiver Zinslauf") abweichend von den für Erstattungszinsen geltenden Regelungen zu bestimmen. Davon gehen die Richtlinien in den Beispielen 14 und 15 zu Nr. 70.1.2 AEAO zu § 233a aber aus. Denn dort wird als Beginn des "fiktiven Zinslaufs" nicht auf den Tag der freiwilligen Leistung, sondern auf den Folgetag abgestellt.
Begründet wird dies mit der über § 108 Abs. 1 AO anzuwendenden Fristvorschrift des § 187 Abs. 1 BGB. Danach ist, wenn für den Anfang einer Frist ein Ereignis maßgebend ist, der Tag, in den das Ereignis fällt, nicht mitzurechnen. Hinsichtlich des Beginns des Zinslaufs bestimmt jedoch § 238 Abs. 1 S. 2 AO, dass Zinsen von dem Tag an, an dem der Zinslauf beginnt, zu zahlen sind. Die Formulierung "von dem Tag an" ist zweifelsfrei in dem Sinne zu verstehen, dass der erste Tag des Zinslaufs von Anfang an, also ab 0 Uhr, bei der Berechnung des Zinslaufs und der Ermittlung der vollen Monate mitzuzählen ist. Die Regelung in § 238 Abs. 1 S. 2 AO gilt - mangels entgegenstehender Bestimmungen - auch für die Bestimmung des Zinslaufs bei Erstattungszinsen. Die Verzinsung beginnt hier frühestens mit dem Tag der Zahlung (§ 233a Abs. 3 S. 3 Halbs. 2 AO). Der Zahlungstag ist demnach von Anfang an ("von dem Tag an"), d.h. ab Tagesbeginn um 0 Uhr, bei der Berechnung der Dauer des Zinslaufs und der Ermittlung der vollen Monate einzubeziehen.
Die gesetzlich angeordnete Berücksichtigung des gesamten ersten Tages für die Ermittlung der Dauer des Zinslaufs und der vollen Monate hat sodann zur Folge, dass sich die Fristberechnung nicht nach §§ 187 Abs. 1 ("Ereignis"), 188 Abs. 2 Var. 1 BGB i.V.m. § 108 Abs. 1 AO, sondern nach §§ 187 Abs. 2, 188 Abs. 2 Var. 2 BGB i.V.m. § 108 Abs. 1 AO richtet. Danach wird, wenn der Beginn eines Tages der für den Anfang einer Frist maßgebende Zeitpunkt ist, dieser Tag bei der Berechnung der Frist mitgerechnet. Das Fristende ist dann mit dem Ablauf desjenigen Tages des letzten Monats erreicht, welcher dem Tage vorhergeht, der durch seine Zahl dem Anfangstage der Frist entspricht. Die Ermittlung der Anzahl der "vollen Monate" gem. §§ 187 Abs. 2, 188 Abs. 2 Var. 2 BGB entspricht der herrschenden Meinung in der Literatur, der sich der BFH anschließt.
Es ist also kein Grund ersichtlich, warum bei der Berechnung "fiktiver Erstattungszinsen" der Zinslauf abweichend von der durch die AO vorgegebenen Regelungssystematik bestimmt werden sollte. Nr. 70.1.2 AEAO zu § 233a ist an diese Systematik angelehnt. Es ist daher nicht ermessensgerecht, davon ohne triftigen Grund abzuweichen und zu unterstellen, dass im Falle der freiwilligen Leistung das Kapital dem Steuerpflichtigen am Zahltag noch zur alleinigen Nutzung zur Verfügung gestanden hat, im Falle einer Leistung nach vorheriger Festsetzung (z.B. von Vorauszahlungen) aber nicht.
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