Zum Prüfungsumfang eines ausländischen Anspruchs auf kindergeldähnliche Leistungen
BFH 13.6.2013, III R 63/11Der Kläger ist polnischer Staatsangehöriger, lebte allerdings ab November 2004 in Deutschland und betrieb hier ein Gewerbe. Seine Ehefrau lebte mit den beiden minderjährigen Kindern weiterhin in Polen. Sie war dort nicht berufstätig. Im Juni 2007 beantragte der Kläger Kindergeld für seine beiden Kinder. Aus einer Bescheinigung der polnischen Sozialversicherungsbehörde ging hervor, dass er dort nicht versichert sei. Er war in Deutschland privat kranken- und rentenversichert.
Aus dem teilweise übersetzten Vordruck des polnischen Trägers ging zudem hervor, dass die Ehefrau ab November 2004 keinen Anspruch auf Familienleistungen habe, weil sie in Polen nicht berufstätig gewesen sei. Das Gleiche bestätigte später auch das Gemeindesozialamt in Lubin. Die Familienkasse setzte im Februar 2009 Kindergeld zugunsten des Klägers für den Zeitraum ab Januar 2005 für beide Kinder in jeweils hälftiger Höhe des gesetzlichen Anspruchs fest. Der Kläger begehrte hingegen Kindergeld in voller Höhe.
Das FG gab der Klage statt. Mit der Revision machte die Familienkasse geltend, das FG habe rechtsfehlerhaft angenommen, nach § 155 FGO i.V.m. § 293 ZPO zur Prüfung des polnischen Rechts verpflichtet gewesen zu sein. Es sei zu dem Ergebnis gekommen, im Zeitraum September 2006 bis August 2009 habe kein Anspruch auf polnische Familienleistungen bestanden. Bejahte man eine solche Prüfungspflicht des FG, bestünde eine solche auch für die Familienkasse im Verwaltungsverfahren. Anderenfalls wäre sie in solchen Fällen einem Prozess- und Kostenrisiko ausgesetzt. Die Revision blieb erfolglos.
Die Gründe:
Das FG hatte zu Recht entschieden, dass dem Kläger ein Kindergeldanspruch in voller Höhe zusteht.
§ 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG verpflichtet das FG, eine eigene Entscheidung darüber zu treffen, ob für ein Kind ein Anspruch auf Gewährung dem Kindergeld vergleichbarer Leistungen nach ausländischem Recht besteht. Diese Prüfungspflicht - die auch für die Familienkasse besteht - ergibt sich aus dem eindeutig formulierten Wortlaut der Vorschrift. Bei dieser Prüfung hat es das maßgebende ausländische Recht gem. § 155 FGO i.V.m. § 293 ZPO von Amts wegen zu ermitteln und festzustellen. Den für die Subsumtion unter das maßgebliche ausländische Recht entscheidungserheblichen Sachverhalt hat das FG unter Beachtung der erweiterten Mitwirkungspflichten des Klägers nach § 76 Abs. 1 S. 4 FGO i.V.m. § 90 Abs. 2 AO von Amts wegen zu ermitteln und festzustellen.
Sollte sich danach im finanzgerichtlichen Verfahren keine negative Bescheinigung einer ausländischen Behörde über das Nichtbestehen eines Anspruchs auf ausländische Familienleistungen beibringen lassen (z.B. wegen fehlender Antragstellung im Ausland), darf das FG nicht bereits deswegen zu Lasten des Klägers unterstellen, es habe ein Anspruch nach ausländischem Recht bestanden. Insbesondere kann von dem Kläger selbst unter Beachtung seiner erweiterten Mitwirkungspflichten nicht erwartet werden, aus Gründen der Beweisvorsorge stets im Ausland einen Antrag auf Familienleistungen zu stellen. Eine solche Betrachtung liefe dem Wortlaut des § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG zuwider, der -gerade unabhängig von einer Antragstellung - auf das bloße Bestehen eines materiell-rechtlichen Anspruchs abstellt. Abgesehen davon lässt sich eine solche Verschärfung der Nachweispflicht auch nicht dem § 90 Abs. 2 AO entnehmen.
Die Vorentscheidung entsprach im Ergebnis diesen Maßstäben. Der Senat wäre an die Feststellungen des FG zum polnischen Recht gebunden. In tatsächlicher Hinsicht hatte das FG die Einkommensverhältnisse des Klägers und seiner Ehefrau aus den Einkommensteuerbescheiden für 2005 bis 2007 entnommen. Auch daran wäre der Senat gebunden. Hierauf hat das FG das polnische Recht angewandt. Es kam zu dem Ergebnis, dass die jeweiligen Familieneinkommen der Jahre 2005 bis 2007 die nach dem polnischen Recht maßgeblichen Grenzbeträge 2005 bis 2007 erheblich überschreiten würden. Sollten dem FG hierbei Fehler bei der Anwendung des polnischen Rechts unterlaufen sein, wären diese nicht revisibel.
Sollte im Streitfall hingegen der den § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG verdrängende Art. 10 der VO Nr. 574/72 anwendbar sein, stünde dem Kläger das begehrte Kindergeld ebenfalls zu. Es verbliebe schon deshalb bei der alleinigen Zahlungsverpflichtung Deutschlands, weil kein materiell-rechtlicher Anspruch auf polnische Familienleistungen bestünde. Schließlich wäre der Kindergeldanspruch auch dann nicht ausgeschlossen, wenn der Kläger bei eröffnetem persönlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 nach den Art. 13 ff. dieser Verordnung nicht den deutschen, sondern "nur" den polnischen Rechtsvorschriften unterliegen würde. Die vom BFH früher in ständiger Rechtsprechung vertretene unionsrechtliche Sperrwirkung des Art. 13 Abs. 1 S. 1 der VO Nr. 1408/71, die eine Anwendung der deutschen Kindergeldvorschriften (§§ 62 ff. EStG) ausschließe, besteht gerade nicht.
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