24.04.2014

Zur Fortgeltung des Schwerbehindertenausweises während der gerichtlichen Überprüfung der Herabsetzung des Grades der Behinderung

Wird bei einem schwerbehinderten Menschen der Grad der Behinderung von 80 oder mehr auf weniger als 50 herabgesetzt, ist dies einkommensteuerrechtlich ab dem im Bescheid genannten Zeitpunkt zu berücksichtigen, so dass Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte sowie Familienheimfahrten im Rahmen einer doppelten Haushaltsführung nicht mehr nach § 9 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 EStG bemessen werden können. § 9 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 EStG ist keine Schutzvorschrift für Schwerbehinderte i.S.d. § 38 Abs. 1 SchwbG bzw. besondere Regelung für schwerbehinderte Menschen i.S.d. § 116 Abs. 1 SGB IX.

BFH 11.3.2014, VI B 95/13
Der Sachverhalt:
Streitig ist, ob für Fahrten zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte nach der Herabsetzung des Grades der Behinderung weiterhin gem. § 9 Abs. 2 S. 3 EStG die tatsächlichen Aufwendungen als Werbungskosten geltend gemacht werden können.

Der Kläger, der während der Streitjahre (2000 bis 2007) nichtselbständig beschäftigt war, wurde durch Bescheid des Versorgungsamts X von Mai 1994 als Schwerbehinderter mit einem Grad der Behinderung von 80 anerkannt. Mit Bescheid des Amtes für soziale Angelegenheiten X von Dezember 1999 wurde der Grad der Behinderung des Klägers unter Aufhebung des Bescheids von Mai 1994 auf 20 herabgesetzt. Gegen diesen Bescheid hat der Kläger den sozialgerichtlichen Rechtsweg ohne Erfolg ausgeschöpft. Die Beschwerde wurde durch Beschluss des BSG von November 2006 - zugestellt im Januar 2007 - als unbegründet zurückgewiesen. Der Kläger war in allen Streitjahren Inhaber eines Schwerbehindertenausweises, in dem ein Grad der Behinderung von 80 ausgewiesen wurde.

Das Finanzamt setzte die Einkommensteuer des Klägers in fünf Änderungsbescheiden von September 2005 für die Jahre 2000 bis 2004 ohne Anwendung des § 9 Abs. 2 S. 3 EStG fest. Darüber hinaus erließ es Einkommensteuerbescheide für die Jahre 2005 bis 2007, in denen es die Fahrten des Klägers zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte lediglich im Rahmen der Entfernungspauschale nach § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 EStG berücksichtigte. Der Kläger ist demgegenüber der Ansicht, sein Status als erheblich Schwerbehinderter sei zu Unrecht nicht berücksichtigt worden. Ausweislich des Schwerbehindertenausweises sei er in den Streitjahren als schwerbehindert anerkannt. Der Ausweis sei bis zum 30.6.2007 gültig gewesen; solange könne er als Behinderter nach § 9 Abs. 2 S. 3 EStG erhöhte Wegekosten für die Fahrten zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte geltend machen.

Das FG wies die Klage ab. Die Revision wurde nicht zugelassen. Die hiergegen gerichtete Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hatte vor dem BFH keinen Erfolg.

Die Gründe:
Den vom Kläger aufgeworfenen Rechtsfragen kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu. Denn sie sind nicht klärungsbedürftig.

Der BFH hat bereits hinreichend geklärt, dass trotz Fortgeltung des Schwerbehindertenausweises bis zum bestandskräftigen Abschluss eines den Grad der Behinderung herabsetzenden Neufeststellungsverfahrens einkommensteuerrechtlich der herabgesetzte Grad der Behinderung bereits auf den Neufeststellungszeitpunkt zu berücksichtigen ist. Das Konkurrenzverhältnis zwischen Neufeststellungsbescheid und einem anderslautenden Schwerbehindertenausweis wird damit zugunsten des Feststellungsbescheids aufgelöst. Die Finanzbehörden sind nach § 171 Abs. 10 AO an die in einem Bescheid enthaltenen Feststellungen über den Grad der Behinderung gebunden.

Der Vorrang der Neufeststellung - hier des Bescheids des Amtes für soziale Angelegenheiten X von Dezember 1999 - vor dem (bis zur Bestandskraft des Änderungsbescheids fortgeltenden) Schwerbehindertenausweis und seiner drittwirkenden Beweisfunktion als öffentliche Urkunde i.S.d. § 417 ZPO auch gegenüber den Finanzbehörden und -gerichten gründet auf einer steuerspezifischen Betrachtungsweise, die dem Grundsatz der Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit geschuldet ist. Denn wenn die Herabsetzung des Grades der Behinderung rechtskräftig festgestellt ist, sind die Folgerungen aus der Neufeststellung (Grundlagenbescheid) schon deshalb zum Neufeststellungszeitpunkt zu ziehen, weil von diesem Moment an behinderungsbedingte erhöhte Wegekosten i.S. des § 9 Abs. 2 S. 3 EStG nicht länger zu erwarten sind.

Die Frage, ob § 9 Abs. 2 S. 3 EStG im Nachwirkungszeitraum des § 38 Abs. 1 SchwbG bzw. § 116 Abs. 1 SGB IX (Beendigung der Anwendung der besonderen Regelungen für schwerbehinderte Menschen erst ab dem Ende des dritten Monats nach Eintritt der Unanfechtbarkeit des den Grad der Behinderung verringernden feststellenden Bescheids) zu berücksichtigen ist, ist ebenfalls nicht klärungsbedürftig. Denn sie lässt sich - soweit nicht bereits entschieden - ebenso wie die Frage nach dem Charakter des § 9 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 EStG bzw. § 9 Abs. 2 S. 11 Nr. 1 EStG i.d.F. des Steueränderungsgesetzes 2007 vom 19.7.2006 als Schutzvorschrift für Schwerbehinderte i.S.d. § 38 Abs. 1 SchwbG bzw. als besondere Regelung für schwerbehinderte Menschen i.S. des § 116 Abs. 1 SGB IX ohne weiteres aus dem EStG beantworten.

§ 38 Abs. 1 SchwbG und § 116 Abs. 1 SGB IX sollen insoweit verhindern, dass schwerbehinderte Menschen nach Absinken des Grades der Behinderung auf unter 50 "von heute auf morgen einer sozial bedenklichen Situation gegenüberstehen". Die Verlängerung des Schwerbehindertenschutzes mag versorgungsrechtlich erforderlich sein. In einem an der Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit und dem Gebot steuerlicher Lastengleichheit ausgerichteten Einkommensteuerrecht ist eine steuerliche Begünstigung nicht- oder minderbehinderter Steuerpflichtiger für einen Übergangszeitraum nicht geboten. Denn in diesem Zeitraum fehlt es bei dem Betroffenen bereits an einem behinderungsbedingten Mehraufwand an Wegekosten. Damit widersprechen Stellung und Bedeutung des § 9 Abs. 2 S. 3 EStG im System des Einkommensteuerrechts einer Einordnung als eine Schutzvorschrift i.S.d. § 38 Abs. 1 SchwbG bzw. als besondere Regelung für schwerbehinderte Menschen i.S.d. § 116 Abs. 1 SGB IX.

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