Zur Frage der Aufhebbarkeit einer Auslandsehe mit einer bei Eheschließung 16-jährigen Ehefrau
BGH v. 22.7.2020 - XII ZB 131/20
Der Sachverhalt:
Die Ehegatten, damals beide libanesische Staatsangehörige moslemischen Glaubens, schlossen im September 2001 im Libanon die Ehe. Der Ehemann war 21 Jahre alt, die Ehefrau stand rund zwei Monate vor ihrem 17. Geburtstag. Sie lebte damals bereits in Deutschland und erwarb im Jahre 2002 die deutsche Staatsangehörigkeit. Im August 2002 folgte der Ehemann seiner Ehefrau nach Deutschland, wo die Ehegatten von April 2003 bis Juni 2016 zusammenlebten und vier Kinder (geboren 2005, 2008, 2009 und 2013) bekamen.
Seit der Trennung der Ehegatten leben die vier Kinder im Haushalt der Mutter, die einen neuen Lebensgefährten hat. Die Ehegatten sind inzwischen nach islamischem Recht geschieden. Anlässlich einer standesamtlichen Beurkundung im Oktober 2018 teilte die Ehefrau auf Nachfrage der Standesbeamtin mit, die Ehe nicht fortsetzen zu wollen. Daraufhin beantragte die zuständige Behörde beim AG, die Ehe aufzuheben, weil die Ehefrau bei Eheschließung minderjährig gewesen sei.
AG und KG wiesen diesen Antrag ab. Die hiergegen gerichtete Rechtsbeschwerde der zuständigen Behörde hatte vor dem BGH keinen Erfolg.
Die Gründe:
Die Aufhebbarkeit der im Libanon wirksam geschlossenen Ehe ist mangels insoweit einschlägiger Überleitungsvorschriften anhand der Rechtslage zu beurteilen, die durch das Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen geschaffen worden ist. Nach § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB liegt ein Eheaufhebungsgrund vor, wenn die Ehe entgegen § 1303 Satz 1 BGB mit einer bei Eheschließung zwar mindestens 16, aber noch nicht 18 Jahre alten Person geschlossen wurde. Ein gesetzlicher Ausschluss der Eheaufhebung nach § 1315 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB ist nicht gegeben. Denn die Ehefrau hat die Ehe nach Erreichen der Volljährigkeit nicht in dem Bewusstsein bestätigt, dass sie diese wegen des Eingehungsmangels zur Auflösung bringen kann oder dass Zweifel an ihrer Gültigkeit bestehen und sie durch ihr Verhalten ein möglicherweise vorhandenes Aufhebungsrecht aufgibt. Die Eheaufhebung würde auch nicht auf Grund außergewöhnlicher Umstände eine so schwere Härte für die Ehefrau bedeuten, dass die Aufrechterhaltung der Ehe ausnahmsweise geboten erscheint.
Als Rechtsfolge der Eheaufhebbarkeit regelt das Gesetz in § 1314 Abs. 1 BGB allerdings, dass die Ehe aufgehoben werden "kann". Nach zutreffendem Verständnis wird damit dem Gericht ein Ermessen eingeräumt, bei Eheschließung durch einen mindestens 16 Jahre alten Minderjährigen trotz des darin liegenden Verstoßes gegen die Bestimmung zur Ehemündigkeit von der Eheaufhebung abzusehen. Das folgt aus einer verfassungskonformen Auslegung, nach der von mehreren Auslegungsmöglichkeiten diejenige den Vorrang hat, bei der die Rechtsnorm mit der Verfassung im Einklang steht. Ein fehlendes gerichtliches Ermessen würde in den Fällen der Eheaufhebung wegen Verstoßes gegen das Erfordernis der Ehemündigkeit hingegen zur Verfassungswidrigkeit der Norm führen. Denn die - außer bei Vorliegen eines Aufhebungsausschlusses - zwingende Eheaufhebung würde eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung sowohl mit nach deutschem Recht geschlossenen Ehen als auch mit Auslandsehen darstellen, bei denen ein Ehegatte bei Eheschließung jünger als 16 Jahre war. Zudem wäre eine solche Regelung unvereinbar mit dem von Verfassungs wegen gebotenen Minderjährigenschutz und verstieße gegen den verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz. Dem ist mit einer Gesetzesauslegung zu begegnen, nach der das Gericht von einer Eheaufhebung ausnahmsweise absehen kann, wenn feststeht, dass die Aufhebung in keiner Hinsicht unter Gesichtspunkten des Minderjährigenschutzes geboten ist, sondern vielmehr gewichtige Umstände gegen sie sprechen.
Im zu entscheidenden Fall führt diese Ermessensausübung zum Absehen von der Eheaufhebung. Umstände, die eine solche zum Schutz der bei Eheschließung fast 17-jährigen Ehefrau gebieten würden, liegen nicht vor. Vielmehr ist sie inzwischen 35 Jahre alt, hat die fast 14 Jahre des ehelichen Zusammenlebens mit dem Antragsgegner ausschließlich in Deutschland verbracht und nach Erreichen der Volljährigkeit mit diesem zusammen vier eheliche Kinder gezeugt. Eine Eheaufhebung würde mithin in krassem Gegensatz zu der langjährig bewusst im Erwachsenenalter gelebten Familienwirklichkeit stehen. Soweit die Ehefrau die Aufhebung der langjährig gelebten Ehe wünscht, führt dies zu keinem anderen Ergebnis der Ermessensausübung, weil sie über die Aufhebung der Ehe nicht disponieren kann. Vielmehr steht ihr insoweit die Scheidung der Ehe offen.
BGH PM Nr. 108 vom 14.8.2020
Die Ehegatten, damals beide libanesische Staatsangehörige moslemischen Glaubens, schlossen im September 2001 im Libanon die Ehe. Der Ehemann war 21 Jahre alt, die Ehefrau stand rund zwei Monate vor ihrem 17. Geburtstag. Sie lebte damals bereits in Deutschland und erwarb im Jahre 2002 die deutsche Staatsangehörigkeit. Im August 2002 folgte der Ehemann seiner Ehefrau nach Deutschland, wo die Ehegatten von April 2003 bis Juni 2016 zusammenlebten und vier Kinder (geboren 2005, 2008, 2009 und 2013) bekamen.
Seit der Trennung der Ehegatten leben die vier Kinder im Haushalt der Mutter, die einen neuen Lebensgefährten hat. Die Ehegatten sind inzwischen nach islamischem Recht geschieden. Anlässlich einer standesamtlichen Beurkundung im Oktober 2018 teilte die Ehefrau auf Nachfrage der Standesbeamtin mit, die Ehe nicht fortsetzen zu wollen. Daraufhin beantragte die zuständige Behörde beim AG, die Ehe aufzuheben, weil die Ehefrau bei Eheschließung minderjährig gewesen sei.
AG und KG wiesen diesen Antrag ab. Die hiergegen gerichtete Rechtsbeschwerde der zuständigen Behörde hatte vor dem BGH keinen Erfolg.
Die Gründe:
Die Aufhebbarkeit der im Libanon wirksam geschlossenen Ehe ist mangels insoweit einschlägiger Überleitungsvorschriften anhand der Rechtslage zu beurteilen, die durch das Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen geschaffen worden ist. Nach § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB liegt ein Eheaufhebungsgrund vor, wenn die Ehe entgegen § 1303 Satz 1 BGB mit einer bei Eheschließung zwar mindestens 16, aber noch nicht 18 Jahre alten Person geschlossen wurde. Ein gesetzlicher Ausschluss der Eheaufhebung nach § 1315 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB ist nicht gegeben. Denn die Ehefrau hat die Ehe nach Erreichen der Volljährigkeit nicht in dem Bewusstsein bestätigt, dass sie diese wegen des Eingehungsmangels zur Auflösung bringen kann oder dass Zweifel an ihrer Gültigkeit bestehen und sie durch ihr Verhalten ein möglicherweise vorhandenes Aufhebungsrecht aufgibt. Die Eheaufhebung würde auch nicht auf Grund außergewöhnlicher Umstände eine so schwere Härte für die Ehefrau bedeuten, dass die Aufrechterhaltung der Ehe ausnahmsweise geboten erscheint.
Als Rechtsfolge der Eheaufhebbarkeit regelt das Gesetz in § 1314 Abs. 1 BGB allerdings, dass die Ehe aufgehoben werden "kann". Nach zutreffendem Verständnis wird damit dem Gericht ein Ermessen eingeräumt, bei Eheschließung durch einen mindestens 16 Jahre alten Minderjährigen trotz des darin liegenden Verstoßes gegen die Bestimmung zur Ehemündigkeit von der Eheaufhebung abzusehen. Das folgt aus einer verfassungskonformen Auslegung, nach der von mehreren Auslegungsmöglichkeiten diejenige den Vorrang hat, bei der die Rechtsnorm mit der Verfassung im Einklang steht. Ein fehlendes gerichtliches Ermessen würde in den Fällen der Eheaufhebung wegen Verstoßes gegen das Erfordernis der Ehemündigkeit hingegen zur Verfassungswidrigkeit der Norm führen. Denn die - außer bei Vorliegen eines Aufhebungsausschlusses - zwingende Eheaufhebung würde eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung sowohl mit nach deutschem Recht geschlossenen Ehen als auch mit Auslandsehen darstellen, bei denen ein Ehegatte bei Eheschließung jünger als 16 Jahre war. Zudem wäre eine solche Regelung unvereinbar mit dem von Verfassungs wegen gebotenen Minderjährigenschutz und verstieße gegen den verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz. Dem ist mit einer Gesetzesauslegung zu begegnen, nach der das Gericht von einer Eheaufhebung ausnahmsweise absehen kann, wenn feststeht, dass die Aufhebung in keiner Hinsicht unter Gesichtspunkten des Minderjährigenschutzes geboten ist, sondern vielmehr gewichtige Umstände gegen sie sprechen.
Im zu entscheidenden Fall führt diese Ermessensausübung zum Absehen von der Eheaufhebung. Umstände, die eine solche zum Schutz der bei Eheschließung fast 17-jährigen Ehefrau gebieten würden, liegen nicht vor. Vielmehr ist sie inzwischen 35 Jahre alt, hat die fast 14 Jahre des ehelichen Zusammenlebens mit dem Antragsgegner ausschließlich in Deutschland verbracht und nach Erreichen der Volljährigkeit mit diesem zusammen vier eheliche Kinder gezeugt. Eine Eheaufhebung würde mithin in krassem Gegensatz zu der langjährig bewusst im Erwachsenenalter gelebten Familienwirklichkeit stehen. Soweit die Ehefrau die Aufhebung der langjährig gelebten Ehe wünscht, führt dies zu keinem anderen Ergebnis der Ermessensausübung, weil sie über die Aufhebung der Ehe nicht disponieren kann. Vielmehr steht ihr insoweit die Scheidung der Ehe offen.