14.05.2018

Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Nachzahlungszinsen

Bei der im Aussetzungsverfahren nach § 69 Abs. 3 FGO gebotenen summarischen Prüfung begegnet die in § 238 Abs. 1 S. 1 AO geregelte Höhe von Nachzahlungszinsen von einhalb Prozent für jeden vollen Monat jedenfalls ab dem Veranlagungszeitraum 2015 schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Zweifeln. Allein bei der steuerlichen Betriebsprüfung vereinnahmte der Fiskus im Bereich der Zinsen nach § 233a AO in den letzten Jahren mehr als 2 Mrd €.

BFH 25.4.2018, IX B 21/18
Der Sachverhalt:
Das Finanzamt hatte die von den gemeinsam veranlagten Antragstellern für das Jahr 2009 zu entrichtende Einkommensteuer zunächst auf 159.139 € festgesetzt. Im Anschluss an eine Außenprüfung änderte die Behörde am 13.11.2017 die Einkommensteuerfestsetzung auf 2.143.939 €. Nachzuzahlen war eine Steuer von 1.984.800 €.

Das Finanzamt verlangte zudem in dem mit der Steuerfestsetzung verbundenen Zinsbescheid für den Zeitraum vom 1.4.2015 bis 16.11.2017 Nachzahlungszinsen i.H.v. 240.831 €. Die Antragsteller begehrten daraufhin die Aussetzung der Vollziehung (AdV) des Zinsbescheids, da die Höhe der Zinsen von einhalb Prozent für jeden Monat verfassungswidrig sei.

Das FG wies die Klage ab. Auf die Beschwerde der Antragsteller hob der BFH die Vorentscheidung auf und gab dem Antrag statt.

Gründe:
Die Vollziehung des Zinsbescheids wird ausgesetzt.

Es bestehen im Hinblick auf die Zinshöhe für Verzinsungszeiträume ab dem Jahr 2015 schwerwiegende Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von § 233a AO i.V.m. § 238 Abs. 1 S. 1 AO. Dies kann zum einen mit der realitätsfernen Bemessung des Zinssatzes begründet werden, die den allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG verletzt. Der gesetzlich festgelegte Zinssatz überschreitet nämlich den angemessenen Rahmen der wirtschaftlichen Realität erheblich, da sich im Streitzeitraum ein niedriges Marktzinsniveaus strukturell und nachhaltig verfestigt hatte.

Eine sachliche Rechtfertigung für die gesetzliche Zinshöhe besteht bei der gebotenen summarischen Prüfung nicht. Auf Grund der auf moderner Datenverarbeitungstechnik gestützten Automation in der Steuerverwaltung können Erwägungen wie Praktikabilität und Verwaltungsvereinfachung einer Anpassung der seit dem Jahr 1961 unveränderten Zinshöhe an den jeweiligen Marktzinssatz oder an den Basiszinssatz i.S.d. § 247 BGB nicht mehr entgegenstehen. Für die Höhe des Zinssatzes fehlt es an einer Begründung.

Der Sinn und Zweck der Verzinsungspflicht besteht schließlich darin, den Nutzungsvorteil wenigstens zum Teil abzuschöpfen, den der Steuerpflichtige dadurch erhält, dass er während der Dauer der Nichtentrichtung über eine Geldsumme verfügen kann. Dieses Ziel ist allerdings wegen des strukturellen Niedrigzinsniveaus im typischen Fall für den Streitzeitraum nicht erreichbar gewesen und trägt damit die realitätsferne Bemessung der Zinshöhe nicht.

Es bestehen zudem schwerwiegende verfassungsrechtliche Zweifel, ob der Zinssatz dem aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Übermaßverbot entspricht. Die realitätsferne Bemessung der Zinshöhe wirkt nämlich in Zeiten eines strukturellen Niedrigzinsniveaus wie ein rechtsgrundloser Zuschlag auf die Steuerfestsetzung. Der Gesetzgeber ist im Übrigen von Verfassungs wegen gehalten zu überprüfen, ob die ursprüngliche Entscheidung zu der in § 238 Abs. 1 S. 1 AO geregelten gesetzlichen Höhe von Nachzahlungszinsen auch bei dauerhafter Verfestigung des Niedrigzinsniveaus aufrechtzuerhalten ist oder die Zinshöhe herabgesetzt werden muss. Dies hat er zwar selbst auch erkannt, aber gleichwohl bis heute nichts getan, obwohl er vergleichbare Zinsregelungen in der AO und im HGB dahin gehend geändert hat.

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BFH PM Nr. 23 vom 14.5.2018
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