09.07.2020

Abgasskandal: Geschädigte in Mitgliedstaaten können im Heimatland gegen Volkswagen AG klagen

Ein Autohersteller, dessen widerrechtlich manipulierte Fahrzeuge in anderen Mitgliedstaaten verkauft werden, kann vor den Gerichten dieser Staaten verklagt werden. Der Schaden des Erwerbers verwirklicht sich nämlich in dem Mitgliedstaat, in dem er das Fahrzeug zu einem über seinem tatsächlichen Wert liegenden Preis erwirbt.

EuGH v. 9.7.2020 - C-343/19
Der Sachverhalt:
Der Verein für Konsumenteninformation (VKI), eine gemeinnützige Verbraucherorganisation, erhob vor dem Landesgericht Klagenfurt (Österreich) eine Schadensersatzklage gegen die deutsche Volkswagen AG wegen Schäden aufgrund des Einbaus einer Software, die die Daten über den Abgasausstoß manipuliere, in Fahrzeuge, die von österreichischen Verbrauchern gekauft wurden. Er beantragt, Volkswagen zur Zahlung von rd. 3,6 Mio. € samt Anhang an ihn zu verurteilen und für alle noch nicht bezifferbaren und/oder künftig eintretenden Schäden haftbar zu machen. Der VKI stützt seine Klage auf die deliktische und quasideliktische Haftung von Volkswagen. Er macht geltend, dass die 574 Verbraucher, die ihre Rechte im Hinblick auf die Klage an ihn abgetreten hätten, in Österreich neue oder gebrauchte Fahrzeuge mit einem Motor EA 189 erworben hätten, bevor die von Volkswagen vorgenommene Manipulation der Abgasdaten dieser Fahrzeuge am 18.9.2015 öffentlich bekannt geworden sei.

Die Motoren seien mit einer "Abschalteinrichtung" versehen gewesen, was gem. der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) rechtswidrig sei. Es handele sich um eine Software, die am Prüfstand einen Abgasausstoß anzeigen lassen könne, der die vorgeschriebenen Höchstwerte einhalte, während unter realistischen Bedingungen, d.h. bei Benutzung der betreffenden Fahrzeuge auf der Straße, die tatsächlich emittierten Schadstoffe Anteile erreichten, die die vorgeschriebenen Obergrenzen um ein Vielfaches überschritten. Nur durch diese Manipulationssoftware sei es Volkswagen möglich gewesen, für Fahrzeuge mit dem Motor EA 189 die Typgenehmigung nach den Rechtsvorschriften der Union zu erhalten.

Nach Auffassung des VKI besteht der Schaden für die Eigentümer dieser Fahrzeuge darin, dass sie die Fahrzeuge bei Kenntnis der in Rede stehenden Manipulation entweder gar nicht oder zu einem mindestens um 30 % geminderten Kaufpreis erworben hätten. Da die fraglichen Fahrzeuge von Anfang an einen Mangel aufgewiesen hätten, seien ihr Marktwert und damit ihr Kaufpreis deutlich niedriger als der tatsächlich gezahlte Preis. Der Unterschiedsbetrag stelle einen ersatzfähigen Schaden dar. Volkswagen (Sitz in Wolfsburg) hält insbesondere die internationale Zuständigkeit der österreichischen Gerichte für nicht gegeben.

Vor diesem Hintergrund hat das Landesgericht Klagenfurt das Verfahren ausgesetzt und den EuGH darum ersucht, die Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 über die gerichtliche Zuständigkeit vorab auszulegen. Nach der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 sind grundsätzlich die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem der Beklagte seinen Wohnsitz bzw. Sitz hat. Im Bereich der deliktischen Haftung sieht die Verordnung jedoch eine besondere Zuständigkeit des Gerichts des Ortes vor, an dem sich der Schadenserfolg verwirklicht hat, und des Gerichts des Ortes, an dem sich das für diesen Schaden ursächliche Geschehen ereignet hat. Somit kann der Beklagte nach Wahl des Klägers auch vor dem Gericht eines dieser beiden Orte verklagt werden.

Vorliegend befindet sich der Ort des ursächlichen Geschehens in Deutschland, wo die fraglichen Kraftfahrzeuge mit einer Software ausgerüstet wurden, die die Daten über den Abgasausstoß manipuliert. Die Anknüpfung an diesen Ort führt daher, wie auch die an den Sitz des Beklagten, zur Zuständigkeit der deutschen Gerichte. Das Landesgericht hat Zweifel, ob der bloße Kauf der in Rede stehenden Fahrzeuge bei in Österreich niedergelassenen Kraftfahrzeughändlern und die Auslieferung dieser Fahrzeuge in Österreich die Annahme zulässt, dass sich der Ort, an dem sich der Schadenserfolg verwirklicht hat, in Österreich befindet, was zur Zuständigkeit der österreichischen Gerichte führen würde.

Die Gründe:
Wurden Fahrzeuge vom Hersteller in einem Mitgliedstaat (Deutschland) rechtswidrig mit einer Software ausgerüstet, die die Daten über den Abgasausstoß manipuliert, und werden diese Fahrzeuge danach bei einem Dritten in einem anderen Mitgliedstaat (Österreich) erworben, so befindet sich der Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs in dem letztgenannten Mitgliedstaat (Österreich).

Der vom VKI vorliegend geltend gemachte Schaden besteht in einer Wertminderung der fraglichen Fahrzeuge, die sich aus der Differenz zwischen dem Preis, den der Erwerber für ein solches Fahrzeug gezahlt hat, und dessen tatsächlichem Wert aufgrund des Einbaus einer Software, in der die Daten über den Abgasausstoß manipuliert werden, ergibt. Folglich ist, obwohl diese Fahrzeuge bereits beim Einbau dieser Software mit einem Mangel behaftet waren, davon auszugehen, dass sich der geltend gemachte Schaden erst zum Zeitpunkt des Erwerbs dieser Fahrzeuge durch ihren Erwerb zu einem Preis, der über ihrem tatsächlichen Wert lag, verwirklicht hat.

Im Fall des Vertriebs von Fahrzeugen, die von ihrem Hersteller mit einer Software ausgerüstet sind, die die Daten über den Abgasausstoß manipuliert, ist der Schaden des Letzterwerbers weder ein mittelbarer Schaden noch ein reiner Vermögensschaden. Er tritt beim Erwerb eines solchen Fahrzeugs von einem Dritten ein. Im Übrigen kann ein in einem Mitgliedstaat niedergelassener Autohersteller, der unzulässige Manipulationen an in anderen Mitgliedstaaten in den Verkehr gebrachten Fahrzeugen vornimmt, vernünftigerweise erwarten, dass er vor den Gerichten dieser Staaten verklagt wird.
EuGH PM Nr. 87 vom 9.7.2020
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