06.04.2020

Dieselskandal: Gerichtsstand bei Klagen ausländischer Käufer gegen Volkswagen

Ein Unternehmen kann von Käufern der von ihm manipulierten Fahrzeuge vor den Gerichten des Staates verklagt werden, in dem diese die Fahrzeuge gekauft haben.

EuGH, C-343/19: Schlussanträge des Generalanwalts vom 2.4.2020
Der Sachverhalt:
Die beklagte Volkswagen AG baute in ihre Kraftfahrzeuge eine Abschalteinrichtung (eine Manipulationssoftware) ein. Diese Manipulation wurde am 18.9.2015 bekannt. Der klagende österreichische Verein für Konsumenteninformation, an den 574 Käufer manipulierter Fahrzeuge ihre Rechte abtraten, erhob im September 2018 Klage gegen Volkswagen vor dem Landesgericht Klagenfurt in Österreich. Die Käufer hatten diese Fahrzeuge in Österreich von einem gewerblichen Vertragshändler oder einem privaten Verkäufer erworben, bevor die Manipulationen bekannt wurden.

Der Kläger beantragt den Ersatz des verursachten Schadens (im Wesentlichen den Ersatz des Differenzbetrags zwischen dem Preis eines manipulierten Fahrzeugs und dem tatsächlich gezahlten Preis) sowie Feststellung der Haftung für weitere noch nicht bezifferbare Schäden (Minderung des Marktwerts der betroffenen Fahrzeuge oder Fahrverbot). Das österreichische Gericht hat Zweifel, ob es zur Entscheidung des Rechtsstreits international zuständig ist. Deshalb hat es sich im Wege des Vorabentscheidungsersuchens an den EuGH gewandt, damit dieser seine Rechtsprechung zur Verordnung (EU) Nr.1215/2012 über die gerichtliche Zuständigkeit präzisiert.

Die Gründe:
Der Kläger muss grundsätzlich vor den Gerichten des Staates des Wohnsitzes des Beklagten Klage erheben. Es bestehen jedoch auch alternative Gerichtsstände. So bietet die Verordnung dem Kläger bei Streitigkeiten wegen unerlaubter Handlung oder einer Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, die Möglichkeit, vor dem Gericht des Ortes zu klagen, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht. Dabei wird eine besonders enge Verbindung zwischen dem zuständigen Gericht und dem Rechtsstreit vorausgesetzt. Diese Verbindung soll Rechtssicherheit schaffen und verhindern, dass eine Person vor einem Gericht eines Mitgliedstaats verklagt werden kann, mit dem sie vernünftigerweise nicht rechnen konnte. Sind die unerlaubte Handlung und ihre Folgen in verschiedenen Mitgliedstaaten zu verorten, kann der Kläger zwischen zwei Gerichtsständen wählen: dem des Ortes, an dem der Schaden eingetreten ist und dem des Ortes, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist.

Im Streitfall besteht das für den Schaden ursächliche Geschehen im Einbau der die Abgaswerte verändernden Software während der Herstellung des Fahrzeugs. Der Ort, an dem das für den Schaden ursächliche Geschehen eingetreten ist, ist Deutschland, da dort die manipulierten Fahrzeuge hergestellt wurden. Daher muss nach der allgemeinen Regel der Hersteller der Fahrzeuge als in Deutschland ansässige Person grundsätzlich vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats verklagt werden. Da der Anspruch jedoch auf einer unerlaubten Handlung oder einer Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, beruht, besteht außerdem die Möglichkeit, dass diese Person in einem anderen Mitgliedstaat, und zwar vor den Gerichten des Ortes der Verwirklichung des Schadenserfolgs, verklagt wird. Zur Präzisierung des Ortes, an dem sich der Schadenserfolg verwirklicht hat, ist nach der Rechtsprechung nur der Erstschaden und nicht der Folgeschaden, und nur der Schaden des unmittelbar Geschädigten und nicht der Schaden, den ein anderer mittelbar erleidet, von Bedeutung.

Vorliegend erzeugt die Differenz zwischen dem gezahlten Preis und dem Wert der als Gegenleistung erhaltenen Sache zeitgleich mit dem Erwerb des Fahrzeugs einen Vermögensschaden. Dieser Vermögensschaden ist ein Erstschaden und kein Folgeschaden, denn er ergibt sich unmittelbar aus dem ursächlichen Geschehen und nicht aus einem früheren Schaden. Außerdem sind diejenigen, die die Fahrzeuge erworben haben, die unmittelbar Geschädigten, da der von ihnen geltend gemachte Vermögensschaden nicht die Folge eines früheren Schadens ist, den andere Personen vor ihnen erlitten haben. Denn der geringere Wert der Fahrzeuge ist erst zutage getreten, als die Manipulation an den Motoren bekannt wurde. Derjenige, der das Fahrzeug von einem früheren Käufer erworben hat, ist daher auch unmittelbar Geschädigter, da dem früheren Käufer kein Schaden entstanden ist: der zu jenem Zeitpunkt latente Schaden ist erst später festgestellt worden und trifft den derzeitigen Eigentümer.

Da der Standort des Fahrzeugs nicht vorhersehbar ist, ist der Ort des Schadenserfolgs der Ort, an dem das Rechtsgeschäft abgeschlossen wurde, aufgrund dessen es Teil des Vermögens des Betroffenen geworden ist und den Vermögensschaden verursacht hat. Die Gerichte dieses Ortes sind international zuständig, wenn die sonstigen spezifischen Gegebenheiten des Falles unter Berücksichtigung der Kriterien der Nähe und der Vorhersehbarkeit ebenfalls für diese Zuständigkeit sprechen. Diese Gegebenheiten sind, wenn es sich um einen reinen Vermögensschaden handelt, von den Merkmalen des jeweiligen Rechtsstreits abhängig. Ein Fahrzeughersteller wie Volkswagen konnte leicht vorhersehen, dass seine Fahrzeuge in Österreich verkauft werden würden, so dass er vernünftigerweise auch vorhersehen konnte, dass die zukünftigen Käufer, die das Produkt in diesem Land erwerben, eine zivilrechtliche Haftungsklage gegen ihn erheben könnten.

Der einzige Zweck der Beurteilung dieser Gegebenheiten kann nur darin bestehen, die Zuständigkeit des Gerichts des Ortes der Verwirklichung des Schadenserfolgs zu bestätigen (oder zu widerlegen). Diese Prüfung darf jedoch nicht dazu genutzt werden, auszuwählen, welches Gericht (im vorliegenden Fall das österreichische Gericht oder die deutschen Gerichte) aufgrund seiner Nähe und Vorhersehbarkeit über die Hauptsache zu entscheiden hat. Daher ist das Gericht des Ortes der Verwirklichung des Schadenserfolgs nicht befugt, allein anhand einer Abwägung der sonstigen Gegebenheiten des Falles seine Zuständigkeit festzustellen oder zu verneinen.
EuGH PM Nr. 45 vom 2.4.2020
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