Kapitalanleger-Musterverfahren: Willkürlich fehlerhaft angewandtes Verfahrensrecht
BGH v. 6.7.2021 - XI ZB 27/19
Der Sachverhalt:
Die Musterbeklagte zu 1) ist Herausgeberin des am 23.11.2007 aufgestellten und am 8.12.2007 veröffentlichten Verkaufsprospekts der Fondsgesellschaft und deren Gründungsgesellschafterin. Die Musterbeklagte zu 2) ist ebenfalls Gründungsgesellschafterin. Sie fungierte zugleich als Treuhandkommanditistin für weitere Anleger. Gesellschaftszweck war neben der Erbringung von Dienstleistungen der "mittelbare Betrieb eines geschlossenen Immobilienfonds, insbesondere für Immobilien in Indien durch Erwerb und spätere Veräußerung von Beteiligungen als Mehrheitsgesellschafter an in- und ausländischen Gesellschaften.
Seit dem Jahr 2011 haben zahlreiche Anleger Klagen gegen die Musterbeklagten anhängig gemacht. Das LG hat daraufhin mit Beschluss vom 3.7.2015 dem OLG Feststellungsziele des Inhalts vorgelegt, der Verkaufsprospekt sei - Feststellungsziel 1 des Vorlagebeschlusses "in erheblichen Punkten unrichtig, unvollständig und irreführend" und - Feststellungsziel 2 des Vorlagebeschlusses - die Musterbeklagten hafteten "als Gesamtschuldner nach den Grundsätzen der Prospekthaftung im weiteren Sinne gem. § 280 Abs. 1, § 311 Abs. 2 BGB bezüglich der in Ziff. 1 genannten Kapitalanlage".
Das OLG ist zunächst von der hinreichenden Bestimmtheit dieser Feststellungsziele ausgegangen. Während des laufenden Musterverfahrens und nach Erlass des Senatsbeschlusses vom 19.9.2017 (Az.: XI ZB 17/15) hat das OLG die Beteiligten mit Verfügung vom 27.3.2018 darauf hingewiesen, "dass die derzeit verfahrensgegenständlichen Feststellungsziele nach Maßgabe des landgerichtlichen Vorlagebeschlusses nicht hinreichend bestimmt" seien. Der Musterkläger hat daraufhin mit Schriftsatz vom 29.5.2018 Feststellungsziele formuliert, mit denen er einzelne Prospektfehler aufgeführt hat.
Das OLG hat am 12.7.2018 einen Beschluss gefasst, in dem es die ihm "gem. § 6 Abs. 1 KapMuG vorgelegten Feststellungsziele [...] in entsprechender Anwendung des § 15 KapMuG [...] konkretisiert" hat. In diesem Beschluss hat es in 25 Nummern behauptete Unvollständigkeiten, Fehler und irreführende Angaben des Verkaufsprospekts aufgelistet. Eine Konkretisierung des Feststellungsziels 2 des Vorlage-beschlusses hat das OLG nicht vorgenommen. Es hat am 26.11.2018 einen weiteren Beschluss nach § 15 KapMuG im Hinblick auf einen zusätzlichen vermeintlichen Prospektfehler gefasst.
Mit Musterentscheid vom 21.12.2018 hat das OLG auf der Grundlage der mit Beschluss vom 12.7.2018 formulierten Feststellungsziele festgestellt, dass der Verkaufsprospekt unvollständig sei. Im Übrigen hat das OLG "die Feststellungsanträge zurückgewiesen". In den Gründen des Musterentscheids hat es sich ausschließlich mit den in seinen Beschlüssen nach § 15 KapMuG benannten Feststellungszielen befasst. Auf die Feststellungsziele 1 und 2 des Vorlagebeschlusses ist es nicht eingegangen.
Dagegen haben die Musterbeklagten Rechtsbeschwerde mit dem Ziel eingelegt, die Zurückweisung auch der Feststellungsziele zu erreichen, denen das OLG entsprochen hat. Mit Beschluss vom 1.12.2020 hat der Senat die Musterbeklagte zu 1) zur Musterrechtsbeschwerdeführerin bestellt und den Beitritt von 79 Beigeladenen als unzulässig zurückgewiesen. Die Rechtsbeschwerden der Musterrechtsbeschwerdeführerin und der Musterbeklagten zu 2) waren vor dem BGH erfolgreich.
Gründe:
Der Musterentscheid ist, soweit das OLG zulasten der Musterrechtsbeschwerdeführerin und der Musterbeklagten zu 2) entschieden hat, auf deren Rechtsbeschwerden schon deshalb aufzuheben, weil der Beschluss des OLG vom 12.7.2018 keine wirksame verfahrensrechtliche Grundlage für die vom OLG getroffenen Feststellungen bietet.
Der Beschluss findet im Verfahrensrecht keine Stütze und verletzt das Verfassungsgebot des gesetzlichen Richters. Das OLG hat gemeint, auf der Grundlage der ausdrücklich die "Erweiterung des Musterverfahrens" regelnden Vorschrift des § 15 KapMuG entgegen § 6 Abs. 1 Satz 2 KapMuG einen den Vorlagebeschluss vollständig ersetzenden Beschluss fassen zu dürfen. Damit hat es Verfahrensrecht willkürlich fehlerhaft angewandt und gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen.
Dem Musterentscheid ist ohne Zweifel zu entnehmen, dass das OLG davon ausgegangen ist, sein Beschluss vom 12.7.2018 trete nicht neben den Vorlagebeschluss, sondern ersetze ihn vollständig. Das OLG hat sich in den Gründen des Musterentscheids nur mit der Zulässigkeit und Begründetheit der Feststellungsziele gemäß seinen Beschlüssen vom 12.7.2018 und vom 26.11.2018 befasst. Es hat außerdem seine Verfahrensweise ausdrücklich damit gerechtfertigt, § 15 KapMuG erfasse nicht nur den Fall, dass das OLG weitere Feststellungsziele in das Musterverfahren einführe, sondern sei auch anwendbar, wenn ein Vorlagebeschluss insgesamt zu unbestimmt gefasst sei und damit keine taugliche Grundlage für eine Sachentscheidung biete.
Das OLG hat damit in seinem Musterentscheid nicht unbewusst die Entscheidung über die in dem Vorlagebeschluss formulierten Feststellungsziele unterlassen. Es hat vielmehr bewusst von einer Entscheidung über die im Vorlagebeschluss formulierten (unzulässigen) Feststellungsziele abgesehen. Darin lag zugleich die Feststellung, die in dem Vorlagebeschluss enthaltenen Feststellungsziele seien nicht mehr anhängig. Die Ersetzung des Vorlagebeschlusses durch den Beschluss vom 12.7.2018 beruht auf einer willkürlich fehlerhaften Anwendung der § 6 Abs. 1 Satz 2 KapMuG und § 15 KapMuG.
BGH online
Die Musterbeklagte zu 1) ist Herausgeberin des am 23.11.2007 aufgestellten und am 8.12.2007 veröffentlichten Verkaufsprospekts der Fondsgesellschaft und deren Gründungsgesellschafterin. Die Musterbeklagte zu 2) ist ebenfalls Gründungsgesellschafterin. Sie fungierte zugleich als Treuhandkommanditistin für weitere Anleger. Gesellschaftszweck war neben der Erbringung von Dienstleistungen der "mittelbare Betrieb eines geschlossenen Immobilienfonds, insbesondere für Immobilien in Indien durch Erwerb und spätere Veräußerung von Beteiligungen als Mehrheitsgesellschafter an in- und ausländischen Gesellschaften.
Seit dem Jahr 2011 haben zahlreiche Anleger Klagen gegen die Musterbeklagten anhängig gemacht. Das LG hat daraufhin mit Beschluss vom 3.7.2015 dem OLG Feststellungsziele des Inhalts vorgelegt, der Verkaufsprospekt sei - Feststellungsziel 1 des Vorlagebeschlusses "in erheblichen Punkten unrichtig, unvollständig und irreführend" und - Feststellungsziel 2 des Vorlagebeschlusses - die Musterbeklagten hafteten "als Gesamtschuldner nach den Grundsätzen der Prospekthaftung im weiteren Sinne gem. § 280 Abs. 1, § 311 Abs. 2 BGB bezüglich der in Ziff. 1 genannten Kapitalanlage".
Das OLG ist zunächst von der hinreichenden Bestimmtheit dieser Feststellungsziele ausgegangen. Während des laufenden Musterverfahrens und nach Erlass des Senatsbeschlusses vom 19.9.2017 (Az.: XI ZB 17/15) hat das OLG die Beteiligten mit Verfügung vom 27.3.2018 darauf hingewiesen, "dass die derzeit verfahrensgegenständlichen Feststellungsziele nach Maßgabe des landgerichtlichen Vorlagebeschlusses nicht hinreichend bestimmt" seien. Der Musterkläger hat daraufhin mit Schriftsatz vom 29.5.2018 Feststellungsziele formuliert, mit denen er einzelne Prospektfehler aufgeführt hat.
Das OLG hat am 12.7.2018 einen Beschluss gefasst, in dem es die ihm "gem. § 6 Abs. 1 KapMuG vorgelegten Feststellungsziele [...] in entsprechender Anwendung des § 15 KapMuG [...] konkretisiert" hat. In diesem Beschluss hat es in 25 Nummern behauptete Unvollständigkeiten, Fehler und irreführende Angaben des Verkaufsprospekts aufgelistet. Eine Konkretisierung des Feststellungsziels 2 des Vorlage-beschlusses hat das OLG nicht vorgenommen. Es hat am 26.11.2018 einen weiteren Beschluss nach § 15 KapMuG im Hinblick auf einen zusätzlichen vermeintlichen Prospektfehler gefasst.
Mit Musterentscheid vom 21.12.2018 hat das OLG auf der Grundlage der mit Beschluss vom 12.7.2018 formulierten Feststellungsziele festgestellt, dass der Verkaufsprospekt unvollständig sei. Im Übrigen hat das OLG "die Feststellungsanträge zurückgewiesen". In den Gründen des Musterentscheids hat es sich ausschließlich mit den in seinen Beschlüssen nach § 15 KapMuG benannten Feststellungszielen befasst. Auf die Feststellungsziele 1 und 2 des Vorlagebeschlusses ist es nicht eingegangen.
Dagegen haben die Musterbeklagten Rechtsbeschwerde mit dem Ziel eingelegt, die Zurückweisung auch der Feststellungsziele zu erreichen, denen das OLG entsprochen hat. Mit Beschluss vom 1.12.2020 hat der Senat die Musterbeklagte zu 1) zur Musterrechtsbeschwerdeführerin bestellt und den Beitritt von 79 Beigeladenen als unzulässig zurückgewiesen. Die Rechtsbeschwerden der Musterrechtsbeschwerdeführerin und der Musterbeklagten zu 2) waren vor dem BGH erfolgreich.
Gründe:
Der Musterentscheid ist, soweit das OLG zulasten der Musterrechtsbeschwerdeführerin und der Musterbeklagten zu 2) entschieden hat, auf deren Rechtsbeschwerden schon deshalb aufzuheben, weil der Beschluss des OLG vom 12.7.2018 keine wirksame verfahrensrechtliche Grundlage für die vom OLG getroffenen Feststellungen bietet.
Der Beschluss findet im Verfahrensrecht keine Stütze und verletzt das Verfassungsgebot des gesetzlichen Richters. Das OLG hat gemeint, auf der Grundlage der ausdrücklich die "Erweiterung des Musterverfahrens" regelnden Vorschrift des § 15 KapMuG entgegen § 6 Abs. 1 Satz 2 KapMuG einen den Vorlagebeschluss vollständig ersetzenden Beschluss fassen zu dürfen. Damit hat es Verfahrensrecht willkürlich fehlerhaft angewandt und gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen.
Dem Musterentscheid ist ohne Zweifel zu entnehmen, dass das OLG davon ausgegangen ist, sein Beschluss vom 12.7.2018 trete nicht neben den Vorlagebeschluss, sondern ersetze ihn vollständig. Das OLG hat sich in den Gründen des Musterentscheids nur mit der Zulässigkeit und Begründetheit der Feststellungsziele gemäß seinen Beschlüssen vom 12.7.2018 und vom 26.11.2018 befasst. Es hat außerdem seine Verfahrensweise ausdrücklich damit gerechtfertigt, § 15 KapMuG erfasse nicht nur den Fall, dass das OLG weitere Feststellungsziele in das Musterverfahren einführe, sondern sei auch anwendbar, wenn ein Vorlagebeschluss insgesamt zu unbestimmt gefasst sei und damit keine taugliche Grundlage für eine Sachentscheidung biete.
Das OLG hat damit in seinem Musterentscheid nicht unbewusst die Entscheidung über die in dem Vorlagebeschluss formulierten Feststellungsziele unterlassen. Es hat vielmehr bewusst von einer Entscheidung über die im Vorlagebeschluss formulierten (unzulässigen) Feststellungsziele abgesehen. Darin lag zugleich die Feststellung, die in dem Vorlagebeschluss enthaltenen Feststellungsziele seien nicht mehr anhängig. Die Ersetzung des Vorlagebeschlusses durch den Beschluss vom 12.7.2018 beruht auf einer willkürlich fehlerhaften Anwendung der § 6 Abs. 1 Satz 2 KapMuG und § 15 KapMuG.