KapMuG: Aussetzung des Verfahrens im Hinblick auf ein die Zulässigkeit der Klage betreffendes Feststellungsziel
BGH v. 4.5.2021 - II ZB 30/20
Der Sachverhalt:
Die Klägerin zu 1) verfolgt mit weiteren Klägern gegen die Beklagte Schadensersatzansprüche wegen der Verletzung von Mitteilungspflichten über Insiderinformationen im Zusammenhang mit dem sogenannten VW-Abgasskandal. Das LG hat das Verfahren hinsichtlich der Klägerin zu 1) nach § 8 Abs. 1 KapMuG im Hinblick auf das durch Vorlagebeschluss des LG Braunschweig vom 5.8.2016 (5 OH 62/16) eingeleitete Musterverfahren ausgesetzt. In dem Musterverfahren erging am 12.8.2019 ein Teilmusterentscheid, der Feststellungen zur Zuständigkeit der Prozessgerichte traf (OLG Braunschweig, 3 Kap 1/19).
Das OLG hat auf die sofortige Beschwerde der Beklagten den Aussetzungsbeschluss unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels aufgehoben, soweit der Rechtsstreit im Hinblick auf Feststellungsziele ausgesetzt worden ist, die nicht Gegenstand des Teilmusterentscheids sind, und das Verfahren insoweit zur erneuten Entscheidung an das LG zurückverwiesen. Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin zu 1) hob der BGH den Beschluss des OLG auf, soweit zum Nachteil der Klägerin zu 1) entschieden worden ist, und wies die sofortige Beschwerde der Beklagten gegen den Beschluss des LG hinsichtlich der Klägerin zu 1) insgesamt zurück.
Die Gründe:
Das OLG hat rechtsfehlerhaft angenommen, dass eine Teilaussetzung eines Ausgangsverfahrens nach § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG erfolgen kann, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von der Entscheidung über Feststellungsziele abhängt, die die Zulässigkeit der Klage betreffen, und ein Teilmusterentscheid über die streitigen Zulässigkeitsfragen ergangen ist. Die Fortsetzung des Verfahrens mit einer Verhandlung über die Hauptsache entsprechend § 280 Abs. 2 Satz 2 ZPO kommt in diesem Fall nicht in Betracht.
Ein Rechtsstreit kann nicht nur teilweise nach § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG im Hinblick auf Feststellungsziele ausgesetzt werden, die die Zulässigkeit der Klage betreffen. Obwohl § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG hierzu keine Regelung enthält, ist im Schrifttum allgemein anerkannt, dass sich die Aussetzung des Verfahrens nach § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG auf einen Teil des Rechtsstreits beziehen kann, insbesondere, wenn in den Fällen einer objektiven und/oder subjektiven Klagehäufung das Musterverfahren nicht für alle Klageanträge bzw. Prozess-rechtsverhältnisse vorgreiflich ist. Dem ist für diejenigen Fälle zuzustimmen, in denen über den Teil des Rechtsstreits, der von der Aussetzung nicht betroffen ist, durch Teilurteil (§ 301 Abs. 1 ZPO) entschieden werden kann oder über den gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 ZPO in einem getrennten Prozess verhandelt werden kann. Die Fortführung von abtrennbaren Teilen des Rechtsstreits, deren Entscheidung nicht von den Feststellungen des Musterverfahrens abhängig ist, entspricht regelmäßig der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes, Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
Ein Rechtsstreit kann dagegen nicht beschränkt auf die Klärung einer Zulässigkeitsvoraussetzung in einem Musterverfahren ausgesetzt werden. Es ist grundsätzlich nicht möglich, die Frage der Zulässigkeit einer Klage nicht zu beantworten und in der Sache zu entscheiden. Schon wegen der Auswirkungen auf die Rechtskraft ergibt sich ein Vorrang der Zulässigkeits- vor der Begründetheitsprüfung.
Nach einer Aussetzung des Verfahrens im Hinblick auf ein die Zulässigkeit der Klage betreffendes Feststellungsziel und der Entscheidung über dieses Feststellungsziel durch einen nicht rechtskräftigen Teilmusterentscheid, kann auch nicht entsprechend § 280 Abs. 2 Satz 2 ZPO eine Verhandlung in der Hauptsache erfolgen. Eine Analogie ist zulässig, wenn das Gesetz eine planwidrige oder ungewollte Regelungslücke enthält, die sich aus einem unbeabsichtigten Abweichen des Gesetzgebers von seinem dem konkreten Gesetzgebungsverfahren zugrunde liegenden Regelungsplan ergibt, und der zu beurteilende Sachverhalt in rechtlicher Hinsicht soweit mit dem Tatbestand, den der Gesetzgeber geregelt hat, vergleichbar ist, dass angenommen werden kann, der Gesetzgeber wäre bei einer Interessenabwägung, bei der er sich von den gleichen Grundsätzen hätte leiten lassen wie bei dem Erlass der herangezogenen Gesetzesvorschrift, zu dem gleichen Abwägungsergebnis gekommen.
Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Es fehlt an der Vergleichbarkeit des hier zu beurteilenden mit dem durch § 280 Abs. 2 Satz 2 ZPO geregelten Sachverhalt und es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Gesetzgeber, hätte er die Klärung von Zulässigkeitsvoraussetzungen im Musterverfahren vor Augen gehabt, die Möglichkeit einer Fortsetzung des Rechtsstreits in der Hauptsache nach Erlass eines Musterentscheids vorgesehen hätte. Besteht Streit zwischen den Parteien über das Vorliegen von Zulässigkeitsvoraussetzungen, kann es der Prozessökonomie dienen, durch ein rechtsmittelfähiges Zwischenurteil nach § 280 Abs. 1 Satz 1 ZPO zunächst die vorgreiflichen Zulässigkeitsfragen abschließend zu klären. § 280 Abs. 2 Satz 2 ZPO erlaubt dem Gericht nach Erlass eines die Zulässigkeit bejahenden Zwischenurteils die Anordnung, in der Hauptsache zu verhandeln, wenn ein hierauf gerichteter Antrag gestellt wurde. Die Vorschrift knüpft damit an den durch den Erlass des Zwischenurteils bewirkten tatsächlichen Stillstand des Verfahrens und ermöglicht die Fortsetzung des Rechtstreits auf Antrag einer Partei nur unter der Voraussetzung, dass das Gericht von der Zulässigkeit der Klage ausgeht.
Eine vergleichbare Situation liegt bei einer Aussetzung des Verfahrens nach § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG im Hinblick auf ein die Zulässigkeit der Klage betreffendes Feststellungsziel nicht vor. Dies gilt auch dann, wenn über das die Zulässigkeit der Klage betreffende Feststellungsziel durch einen Teil-musterentscheid entschieden wurde und danach von der Zulässigkeit der Klage auszugehen ist. Die Aussetzung des Verfahrens nach § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG muss unabhängig davon, wie das Prozessgericht die Frage der Zulässigkeit der Klage beantworten möchte, zwingend erfolgen, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von den geltend gemachten Feststellungszielen abhängt und zwar bis zu dem Zeitpunkt, zu dem eine rechtskräftige Entscheidung über die Feststellungsziele vorliegt. Mit dem Erlass eines Teilmusterentscheids entsteht für das aussetzende Gericht keine Prozesslage, die mit derjenigen nach Erlass eines die Zulässigkeit der Klage bejahenden Zwischenurteils nach § 280 Abs. 2 Satz 1 ZPO vergleichbar ist. Die Pflicht zur Aussetzung des Verfahrens nach § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG besteht auch nach diesem Zeitpunkt fort. Im Übrigen ist die Zulässigkeit der Klage mit dem Erlass eines Musterentscheids noch nicht verbindlich beantwortet, weil dessen Bindungswirkung nach § 22 Abs. 1 Satz 1 KapMuG vom Eintritt der Rechtskraft abhängig ist.
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Die Klägerin zu 1) verfolgt mit weiteren Klägern gegen die Beklagte Schadensersatzansprüche wegen der Verletzung von Mitteilungspflichten über Insiderinformationen im Zusammenhang mit dem sogenannten VW-Abgasskandal. Das LG hat das Verfahren hinsichtlich der Klägerin zu 1) nach § 8 Abs. 1 KapMuG im Hinblick auf das durch Vorlagebeschluss des LG Braunschweig vom 5.8.2016 (5 OH 62/16) eingeleitete Musterverfahren ausgesetzt. In dem Musterverfahren erging am 12.8.2019 ein Teilmusterentscheid, der Feststellungen zur Zuständigkeit der Prozessgerichte traf (OLG Braunschweig, 3 Kap 1/19).
Das OLG hat auf die sofortige Beschwerde der Beklagten den Aussetzungsbeschluss unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels aufgehoben, soweit der Rechtsstreit im Hinblick auf Feststellungsziele ausgesetzt worden ist, die nicht Gegenstand des Teilmusterentscheids sind, und das Verfahren insoweit zur erneuten Entscheidung an das LG zurückverwiesen. Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin zu 1) hob der BGH den Beschluss des OLG auf, soweit zum Nachteil der Klägerin zu 1) entschieden worden ist, und wies die sofortige Beschwerde der Beklagten gegen den Beschluss des LG hinsichtlich der Klägerin zu 1) insgesamt zurück.
Die Gründe:
Das OLG hat rechtsfehlerhaft angenommen, dass eine Teilaussetzung eines Ausgangsverfahrens nach § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG erfolgen kann, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von der Entscheidung über Feststellungsziele abhängt, die die Zulässigkeit der Klage betreffen, und ein Teilmusterentscheid über die streitigen Zulässigkeitsfragen ergangen ist. Die Fortsetzung des Verfahrens mit einer Verhandlung über die Hauptsache entsprechend § 280 Abs. 2 Satz 2 ZPO kommt in diesem Fall nicht in Betracht.
Ein Rechtsstreit kann nicht nur teilweise nach § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG im Hinblick auf Feststellungsziele ausgesetzt werden, die die Zulässigkeit der Klage betreffen. Obwohl § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG hierzu keine Regelung enthält, ist im Schrifttum allgemein anerkannt, dass sich die Aussetzung des Verfahrens nach § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG auf einen Teil des Rechtsstreits beziehen kann, insbesondere, wenn in den Fällen einer objektiven und/oder subjektiven Klagehäufung das Musterverfahren nicht für alle Klageanträge bzw. Prozess-rechtsverhältnisse vorgreiflich ist. Dem ist für diejenigen Fälle zuzustimmen, in denen über den Teil des Rechtsstreits, der von der Aussetzung nicht betroffen ist, durch Teilurteil (§ 301 Abs. 1 ZPO) entschieden werden kann oder über den gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 ZPO in einem getrennten Prozess verhandelt werden kann. Die Fortführung von abtrennbaren Teilen des Rechtsstreits, deren Entscheidung nicht von den Feststellungen des Musterverfahrens abhängig ist, entspricht regelmäßig der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes, Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
Ein Rechtsstreit kann dagegen nicht beschränkt auf die Klärung einer Zulässigkeitsvoraussetzung in einem Musterverfahren ausgesetzt werden. Es ist grundsätzlich nicht möglich, die Frage der Zulässigkeit einer Klage nicht zu beantworten und in der Sache zu entscheiden. Schon wegen der Auswirkungen auf die Rechtskraft ergibt sich ein Vorrang der Zulässigkeits- vor der Begründetheitsprüfung.
Nach einer Aussetzung des Verfahrens im Hinblick auf ein die Zulässigkeit der Klage betreffendes Feststellungsziel und der Entscheidung über dieses Feststellungsziel durch einen nicht rechtskräftigen Teilmusterentscheid, kann auch nicht entsprechend § 280 Abs. 2 Satz 2 ZPO eine Verhandlung in der Hauptsache erfolgen. Eine Analogie ist zulässig, wenn das Gesetz eine planwidrige oder ungewollte Regelungslücke enthält, die sich aus einem unbeabsichtigten Abweichen des Gesetzgebers von seinem dem konkreten Gesetzgebungsverfahren zugrunde liegenden Regelungsplan ergibt, und der zu beurteilende Sachverhalt in rechtlicher Hinsicht soweit mit dem Tatbestand, den der Gesetzgeber geregelt hat, vergleichbar ist, dass angenommen werden kann, der Gesetzgeber wäre bei einer Interessenabwägung, bei der er sich von den gleichen Grundsätzen hätte leiten lassen wie bei dem Erlass der herangezogenen Gesetzesvorschrift, zu dem gleichen Abwägungsergebnis gekommen.
Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Es fehlt an der Vergleichbarkeit des hier zu beurteilenden mit dem durch § 280 Abs. 2 Satz 2 ZPO geregelten Sachverhalt und es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Gesetzgeber, hätte er die Klärung von Zulässigkeitsvoraussetzungen im Musterverfahren vor Augen gehabt, die Möglichkeit einer Fortsetzung des Rechtsstreits in der Hauptsache nach Erlass eines Musterentscheids vorgesehen hätte. Besteht Streit zwischen den Parteien über das Vorliegen von Zulässigkeitsvoraussetzungen, kann es der Prozessökonomie dienen, durch ein rechtsmittelfähiges Zwischenurteil nach § 280 Abs. 1 Satz 1 ZPO zunächst die vorgreiflichen Zulässigkeitsfragen abschließend zu klären. § 280 Abs. 2 Satz 2 ZPO erlaubt dem Gericht nach Erlass eines die Zulässigkeit bejahenden Zwischenurteils die Anordnung, in der Hauptsache zu verhandeln, wenn ein hierauf gerichteter Antrag gestellt wurde. Die Vorschrift knüpft damit an den durch den Erlass des Zwischenurteils bewirkten tatsächlichen Stillstand des Verfahrens und ermöglicht die Fortsetzung des Rechtstreits auf Antrag einer Partei nur unter der Voraussetzung, dass das Gericht von der Zulässigkeit der Klage ausgeht.
Eine vergleichbare Situation liegt bei einer Aussetzung des Verfahrens nach § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG im Hinblick auf ein die Zulässigkeit der Klage betreffendes Feststellungsziel nicht vor. Dies gilt auch dann, wenn über das die Zulässigkeit der Klage betreffende Feststellungsziel durch einen Teil-musterentscheid entschieden wurde und danach von der Zulässigkeit der Klage auszugehen ist. Die Aussetzung des Verfahrens nach § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG muss unabhängig davon, wie das Prozessgericht die Frage der Zulässigkeit der Klage beantworten möchte, zwingend erfolgen, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von den geltend gemachten Feststellungszielen abhängt und zwar bis zu dem Zeitpunkt, zu dem eine rechtskräftige Entscheidung über die Feststellungsziele vorliegt. Mit dem Erlass eines Teilmusterentscheids entsteht für das aussetzende Gericht keine Prozesslage, die mit derjenigen nach Erlass eines die Zulässigkeit der Klage bejahenden Zwischenurteils nach § 280 Abs. 2 Satz 1 ZPO vergleichbar ist. Die Pflicht zur Aussetzung des Verfahrens nach § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG besteht auch nach diesem Zeitpunkt fort. Im Übrigen ist die Zulässigkeit der Klage mit dem Erlass eines Musterentscheids noch nicht verbindlich beantwortet, weil dessen Bindungswirkung nach § 22 Abs. 1 Satz 1 KapMuG vom Eintritt der Rechtskraft abhängig ist.