11.08.2023

Streitwert bei Nichtigkeitsklage hinsichtlich von Jahresabschlüssen einer AG

Zwar kann die Sperre des § 62 Abs. 1 S. 2 AktG nach der neueren BGH-Rechtsprechung durch Insolvenzanfechtung nach § 134 InsO überwunden werden (vgl. BGH, Urt. v. 30.3.2023 - IX ZR 121/22); insoweit kommt allerdings der Entreicherungseinwand nach § 143 Abs. 2 InsO in Betracht. Der wirtschaftliche Nutzen von Rückforderungsprozessen gegen Kleinaktionäre mit unsicherem Ausgang erscheint zumindest fraglich.

OLG München v. 8.8.2023, 7 W 1712/22 e
Der Sachverhalt:
Der Kläger macht als Insolvenzverwalter der beklagten Aktiengesellschaft die Nichtigkeit der Jahresabschlüsse der Beklagten für die Geschäftsjahre 2017 und 2018 sowie der darauf beruhenden Gewinnverwendungsbeschlüsse geltend. Die Beklagte wird im vorliegenden Rechtsstreit durch bestellte Prozesspfleger vertreten. Der Streithelfer auf Beklagtenseite war im streitgegenständlichen Zeitraum Vorstandsvorsitzender der Beklagten. Die Nebenintervenienten auf Klägerseite sind Aktionäre der Beklagten.

Das LG hat der Klage durch Endurteil vom 5.5.2022 stattgegeben. Das Urteil ist nach Rücknahme der Berufung der Streithelfers auf Beklagtenseite rechtskräftig. Das LG hat den Streitwert im Verhältnis des Nebenintervenienten zu 1) (der dem Rechtsstreit nur hinsichtlich der Anfechtung der Jahresabschlüsse beigetreten war) zur Beklagten und zum Streithelfer auf Beklagtenseite auf 1 Mio. € und im Übrigen auf 1,5 Mio. € festgesetzt. Dabei hat es 500.000 € je Jahresabschluss und 250.000 € je Gewinnverwendungsbeschluss angesetzt.

Mit ihrer Beschwerde aus eigenem Recht gem. § 32 RVG wandten sich die Prozesspfleger der Beklagten gegen die genannte Festsetzung des Streitwerts und erstreben die Festsetzung des Streitwerts auf mind. 75,3 Mio. €. Das LG hat der Beschwerde nicht abgeholfen. Vor dem OLG war die Beschwerde teilweise erfolgreich.

Die Gründe:
Angemessen erscheint ein Streitwert i.H.v. 4,8 Mio. € (im Verhältnis zwischen dem Nebenintervenienten zu 1) und der Beklagtenseite von 4,6 Mio. €).

Auszugehen war von § 247 Abs. 1 AktG. Hiernach bemisst sich der Streitwert nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles, insbesondere der Bedeutung der Sache für die Parteien; er darf jedoch 10% des Grundkapitals der beklagten Aktiengesellschaft, höchstens aber 500.000 € (je Streitgegenstand) nur insoweit übersteigen, als die Bedeutung der Sache für den Kläger höher zu bewerten ist. Aus diesem eindeutigen Wortlaut folgte nach Auffassung des Senats, dass - entgegen der Ansicht der Beschwerde - für eine Überschreitung des Streitwertdeckels ausschließlich der Wert der Interessen des Klägers und nicht etwa die Interessen der sonstigen Beteiligten, unbeteiligter Aktionäre oder gar der Allgemeinheit maßgeblich sind.

Auch auf dieser Basis erschien jedoch hinsichtlich der Streitgegenstände "Nichtigkeit der Jahresabschlüsse 2017 bzw. 2018" eine Bewertung mit je 500.000,- € nicht hinreichend; der Senat hat die diesbezüglichen Interessen auf 2,2 Mio. € (2017) bzw. 2,4 Mio. € (2018) bemessen. Kein Kriterium für die Bemessung des klägerischen Interesses war demnach eine beabsichtigte Rückforderung von Steuern. Abgabenrechtlich ist die Handelsbilanz irrelevant, so dass deren Nichtigkeit auf eventuelle abgabenrechtliche Verfahren keinen Einfluss hat.

Keinen wesentlichen Einfluss auf die Bemessung des Streitwerts hat auch eine eventuelle Inanspruchnahme der Organe (Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder der Beklagten) auf Schadensersatz. Zwar mag die Billigung von nichtigen Jahresabschlüssen als pflichtwidrige und damit haftungsauslösende Handlung in Betracht kommen; der Schwerpunkt eventueller Haftungsklagen dürfte aber, was die geltend gemachten (kausalen) Schäden betrifft, auf eventuellen anderen Pflichtwidrigkeiten der Organmitglieder liegen. Dasselbe gilt cum grano salis für eine eventuelle Inanspruchnahme des Abschlussprüfers. Dem Kläger obliegt es nur, Schadensersatzansprüche der Masse (also der Beklagten) geltend zu machen; sollte eine Haftung des Abschlussprüfers überhaupt in Betracht kommen, wird der Schaden schwerpunktmäßig nicht bei der Beklagten, sondern bei Dritten (Anleger) liegen.

Inwieweit die Rückforderung von variabler Vergütung der Organmitglieder in Betracht kommt und inwieweit hierfür die Nichtigkeit der Jahresabschlüsse relevant ist, konnte (auch in Unkenntnis von deren Dienstverträgen) nicht realistisch eingeschätzt werden. Einzig greifbar erschien das Interesse des Klägers an der Rückforderung von Dividenden, was die Nichtigkeit der Jahresabschlüsse (und der darauf basierenden Gewinnverwendungsbeschlüsse) voraussetzte. An Dividenden ausgeschüttet wurden für das Geschäftsjahr 2017 rund 22 Mio. € und für das Geschäftsjahr 2018 rund 24 Mio. €. Das Interesse des Klägers an der Rückforderung dieser Beträge konnte allerdings bei der gebotenen wirtschaftlichen Betrachtungsweise nicht zum Nennwert bemessen werden, da die streitgegenständliche Nichtigkeitsfeststellung nur einen ersten Schritt für die Realisierung von Rückforderungsansprüchen darstellt und deren weitere Durchsetzung mit erheblichen rechtlichen und tatsächlichen Schwierigkeiten belastet sein dürfte.

Bösgläubigkeit i.S.v. § 62 Abs. 1 S. 2 AktG dürfte allenfalls bei einigen Organmitgliedern der Beklagten in Betracht kommen. Ob bestehende Ansprüche gegen sie tatsächlich realisierbar sein werden, erschien zumindest fraglich. Zwar kann die Sperre des § 62 Abs. 1 S. 2 AktG nach der neueren BGH-Rechtsprechung durch Insolvenzanfechtung nach § 134 InsO überwunden werden (vgl. BGH, Urt. v. 30.3.2023 - IX ZR 121/22); insoweit kommt allerdings der Entreicherungseinwand nach § 143 Abs. 2 InsO in Betracht. Der wirtschaftliche Nutzen von Rückforderungsprozessen gegen Kleinaktionäre mit unsicherem Ausgang erscheint zumindest fraglich.

Der Senat hat das wirtschaftliche Interesse des Klägers an der Nichtigkeit der Jahresabschlüsse mit jeweils 10% der ausgeschütteten Dividenden von rund 22 Mio. € bzw. 24 Mio. €, das sind 2,2 Mio. € für 2017 und 2,4 Mio. € für 2018 bemessen. Die Streitgegenstände "Nichtigkeit der Gewinnverwendungsbeschlüsse 2017 bzw. 2018" wurden lediglich symbolisch mit je 100.000 € bemessen.

Mehr zum Thema:

Rechtsprechung:
Anfechtbarkeit der Ausschüttung eines Gewinnvortrags an einen Gesellschafter als Rückgewähr einer darlehensgleichen Forderung
BGH vom 22.7.2021 - IX ZR 195/20
ZIP 2021, 1822

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