Unternehmenszusammenschluss: Fusions- und Missbrauchskontrolle
EuGH, C-449/21: Schlussanträge des Generalanwalts vom 13.10.2022
Der Sachverhalt:
Die französische Gesellschaft TDF Infrastructure Holding hatte auf dem französischen Markt für terrestrische Fernsehübertragungen ein gesetzliches Monopol inne, bis dieser Markt Anfang 2004 liberalisiert wurde. In den vergangenen Jahren kam es jedoch erneut zu einer starken Konzentration. Zu einem Zeitpunkt, als neben TDF nur noch zwei andere Gesellschaften auf diesem Markt tätig waren, nämlich Itas und Towercast, übernahm TDF, die mit Abstand die größten Marktanteile besaß, die Kontrolle an Itas.
Da dieser Erwerb unterhalb der in der EU-Fusionskontrollverordnung (FKVO) und im französischen Handelsgesetzbuch vorgesehenen Schwellenwerte lag, war er Gegenstand einer Vorabkontrolle weder durch die Kommission noch durch die französische Wettbewerbsbehörde. Mangels eines entsprechenden Antrags Frankreichs oder eines anderen Mitgliedstaats kam es auch nicht zu einer Verweisung an die Kommission nach der FKVO.
Towercast sieht in der Übernahme von Itas durch TDF einen Verstoß gegen das Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung. TDF behindere den Wettbewerb auf den vor- und nachgelagerten Großkundenmärkten für die digitale Übertragung von terrestrischen Fernsehdiensten (Digital Video Broadcasting - Terrestrial oder DVB T) nämlich dadurch, dass sie ihre marktbeherrschende Stellung auf diesen Märkten erheblich verstärke.
Die französische Wettbewerbsbehörde wies die Beschwerde von Towercast zurück. Das auf die Berufung von Towercast mit der Sache befasste Berufungsgericht Paris möchte vom EuGH im Wesentlichen wissen, ob es einer nationalen Wettbewerbsbehörde möglich ist, einen Zusammenschluss, der von einem Unternehmen mit marktbeherrschender Stellung betrieben wurde, nachträglich am Maßstab des unionsrechtlichen Verbots des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung (Art. 102 AEUV) zu prüfen, wenn dieser Zusammenschluss die maßgeblichen umsatzbezogenen Aufgreifschwellenwerte der FKVO und des nationalen Fusionskontrollrechts nicht erreicht und daher keine entsprechende Vorabprüfung stattgefunden hat.
Die Gründe:
Die komplementäre Anwendung von Art. 102 AEUV ist geeignet, zum effektiven Schutz des Wettbewerbs im Binnenmarkt beizutragen, sofern wettbewerbsrechtlich problematische Zusammenschlüsse die fusionskontrollrechtlichen Schwellenwerte nicht erreichen und daher grundsätzlich keiner Vorabkontrolle unterliegen.
In den vergangenen Jahren hat sich eine Schutzlücke in der wettbewerbsrechtlichen Erfassung und Kontrolle von Übernahmen innovativer Start-Up-Unternehmen, z.B. im Bereich der Internetdienste, der pharmazeutischen Industrie oder der Medizintechnik, manifestiert (sog. "killer acquisitions"). Dies betrifft Situationen, in denen etablierte und marktmächtige Unternehmen aufstrebende, aber noch wenig umsatzstarke Unternehmen, die auf demselben, benachbarten, vor- oder nachgelagerten Märkten tätig sind, in ihrem frühen Entwicklungsstadium übernehmen, um diese als Wettbewerber auszuschalten und die eigene Marktstellung zu konsolidieren. Um auch insoweit einen effektiven Schutz des Wettbewerbs zu gewährleisten, sollte es einer nationalen Wettbewerbsbehörde daher möglich sein, zumindest auf das "schwächere" Instrument der repressiven nachträglichen Kontrolle nach Art. 102 AEUV zurückzugreifen, sofern dessen tatbestandliche Voraussetzungen erfüllt sind.
Sollte diese Kontrolle zu dem Ergebnis kommen, dass ein Missbrauch der beherrschenden Stellung vorliegt, droht in der Regel keine nachträgliche Rückabwicklung des Zusammenschlusses, sondern nur die Verhängung einer Geldbuße. Dies ergibt sich aus dem Vorrang verhaltensorientierter Abhilfemaßnahmen vor denjenigen struktureller Art sowie aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Wurde hingegen ein Zusammenschluss nach den spezielleren Regeln der Fusionskontrolle genehmigt und wurden folglich seine Auswirkungen auf die Marktstruktur und die Wettbewerbsbedingungen für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt, kann er als solcher nicht (mehr) als Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung i.S.d. Art. 102 AEUV qualifiziert werden, sofern nicht darüberhinausgehende Verhaltensweisen des betroffenen Unternehmens festzustellen sind, die diesen Tatbestand erfüllen können.
Mehr zum Thema:
Aufsatz:
Lieferkettengesetz, Europäisches Kartellrecht und die Folgen: Effiziente Missbrauchsbekämpfung oder nutzlose Gängelung gesetzestreuer Unternehmen?
Jens Ekkenga / Karl B. Erlemann, ZIP 2022, 49
Abrufbar auch im Aktionsmodul Gesellschaftsrecht:
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EuGH PM Nr. 168 vom 13.10.2022
Die französische Gesellschaft TDF Infrastructure Holding hatte auf dem französischen Markt für terrestrische Fernsehübertragungen ein gesetzliches Monopol inne, bis dieser Markt Anfang 2004 liberalisiert wurde. In den vergangenen Jahren kam es jedoch erneut zu einer starken Konzentration. Zu einem Zeitpunkt, als neben TDF nur noch zwei andere Gesellschaften auf diesem Markt tätig waren, nämlich Itas und Towercast, übernahm TDF, die mit Abstand die größten Marktanteile besaß, die Kontrolle an Itas.
Da dieser Erwerb unterhalb der in der EU-Fusionskontrollverordnung (FKVO) und im französischen Handelsgesetzbuch vorgesehenen Schwellenwerte lag, war er Gegenstand einer Vorabkontrolle weder durch die Kommission noch durch die französische Wettbewerbsbehörde. Mangels eines entsprechenden Antrags Frankreichs oder eines anderen Mitgliedstaats kam es auch nicht zu einer Verweisung an die Kommission nach der FKVO.
Towercast sieht in der Übernahme von Itas durch TDF einen Verstoß gegen das Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung. TDF behindere den Wettbewerb auf den vor- und nachgelagerten Großkundenmärkten für die digitale Übertragung von terrestrischen Fernsehdiensten (Digital Video Broadcasting - Terrestrial oder DVB T) nämlich dadurch, dass sie ihre marktbeherrschende Stellung auf diesen Märkten erheblich verstärke.
Die französische Wettbewerbsbehörde wies die Beschwerde von Towercast zurück. Das auf die Berufung von Towercast mit der Sache befasste Berufungsgericht Paris möchte vom EuGH im Wesentlichen wissen, ob es einer nationalen Wettbewerbsbehörde möglich ist, einen Zusammenschluss, der von einem Unternehmen mit marktbeherrschender Stellung betrieben wurde, nachträglich am Maßstab des unionsrechtlichen Verbots des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung (Art. 102 AEUV) zu prüfen, wenn dieser Zusammenschluss die maßgeblichen umsatzbezogenen Aufgreifschwellenwerte der FKVO und des nationalen Fusionskontrollrechts nicht erreicht und daher keine entsprechende Vorabprüfung stattgefunden hat.
Die Gründe:
Die komplementäre Anwendung von Art. 102 AEUV ist geeignet, zum effektiven Schutz des Wettbewerbs im Binnenmarkt beizutragen, sofern wettbewerbsrechtlich problematische Zusammenschlüsse die fusionskontrollrechtlichen Schwellenwerte nicht erreichen und daher grundsätzlich keiner Vorabkontrolle unterliegen.
In den vergangenen Jahren hat sich eine Schutzlücke in der wettbewerbsrechtlichen Erfassung und Kontrolle von Übernahmen innovativer Start-Up-Unternehmen, z.B. im Bereich der Internetdienste, der pharmazeutischen Industrie oder der Medizintechnik, manifestiert (sog. "killer acquisitions"). Dies betrifft Situationen, in denen etablierte und marktmächtige Unternehmen aufstrebende, aber noch wenig umsatzstarke Unternehmen, die auf demselben, benachbarten, vor- oder nachgelagerten Märkten tätig sind, in ihrem frühen Entwicklungsstadium übernehmen, um diese als Wettbewerber auszuschalten und die eigene Marktstellung zu konsolidieren. Um auch insoweit einen effektiven Schutz des Wettbewerbs zu gewährleisten, sollte es einer nationalen Wettbewerbsbehörde daher möglich sein, zumindest auf das "schwächere" Instrument der repressiven nachträglichen Kontrolle nach Art. 102 AEUV zurückzugreifen, sofern dessen tatbestandliche Voraussetzungen erfüllt sind.
Sollte diese Kontrolle zu dem Ergebnis kommen, dass ein Missbrauch der beherrschenden Stellung vorliegt, droht in der Regel keine nachträgliche Rückabwicklung des Zusammenschlusses, sondern nur die Verhängung einer Geldbuße. Dies ergibt sich aus dem Vorrang verhaltensorientierter Abhilfemaßnahmen vor denjenigen struktureller Art sowie aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Wurde hingegen ein Zusammenschluss nach den spezielleren Regeln der Fusionskontrolle genehmigt und wurden folglich seine Auswirkungen auf die Marktstruktur und die Wettbewerbsbedingungen für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt, kann er als solcher nicht (mehr) als Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung i.S.d. Art. 102 AEUV qualifiziert werden, sofern nicht darüberhinausgehende Verhaltensweisen des betroffenen Unternehmens festzustellen sind, die diesen Tatbestand erfüllen können.
Aufsatz:
Lieferkettengesetz, Europäisches Kartellrecht und die Folgen: Effiziente Missbrauchsbekämpfung oder nutzlose Gängelung gesetzestreuer Unternehmen?
Jens Ekkenga / Karl B. Erlemann, ZIP 2022, 49
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