25.09.2020

Verfassungsbeschwerden gegen die Zurückweisung von Befangenheitsanträgen in Kapitalanleger-Musterverfahren erfolglos

Das BVerfG hat drei Verfassungsbeschwerden, die sich gegen die Zurückweisung dreier Befangenheitsanträge im Rahmen eines laufenden Kapitalanleger-Musterverfahrens nach dem KapMuG richteten, nicht zur Entscheidung angenommen.

BVerfG v. 15.9.2020 - 1 BvR 2435/18 u.a.
Der Sachverhalt:
Nach Beginn des Musterverfahrens fanden innerhalb des zuständigen Senats des OLG mehrere aufeinanderfolgende Richterwechsel statt. Auf die Bitte des Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin übersandte der Senatsvorsitzende diesem die senatsinternen Geschäftsverteilungspläne vom 1.9.2017, 1.1.2018 und 1.4.2018. Einen weiteren Beschluss über die Geschäftsverteilung ab dem 1.3.2018 übersandte der Senat erst zu einem späteren Zeitpunkt, nachdem Unstimmigkeiten aufgefallen waren. Die Geschäftsverteilungspläne weisen das Musterverfahren jeweils einem der Beisitzer als Berichterstatter zu. Außerdem geht hieraus hervor, dass der Senat mit fünf und im März 2018 sogar mit sechs Richtern einschließlich des Vorsitzenden besetzt war.

Die Beschwerdeführerin lehnte den Senatsvorsitzenden sowie den Berichterstatter für das Musterverfahren wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Der Beschluss vom 1.3.2018 sei entweder ihrem Bevollmächtigten bewusst vorenthalten oder nachträglich gefälscht worden, um zum einen eine unzulässige Überbesetzung des Senats im März 2018 und zum anderen die ebenfalls unzulässige Zuweisung der Berichterstattung für das Kapitalanleger-Musterverfahren an einen bestimmten Beisitzer zu verschleiern. Der Senat wies das Ablehnungsgesuch gegen den Senatsvorsitzenden und den Berichterstatter für das Musterverfahren unter Mitwirkung einer Richterin sowie zwei weiterer Richter zurück.

Daraufhin lehnte die Beschwerdeführerin die beteiligte Richterin wegen der Besorgnis der Befangenheit ab, da diese an den Beschlüssen über die senatsinterne Geschäftsverteilung mitgewirkt habe, so dass sie aufgrund Vorbefassung i.S.d. § 41 Nr. 6 ZPO von der Ausübung des Richteramtes ausgeschlossen gewesen sei. Auch dieses Ablehnungsgesuch wies der Senat ebenso wie ein weiteres Ablehnungsgesuch gegen den Senatsvorsitzenden, das ebenfalls die Versendung der senatsinternen Geschäftsverteilungspläne betraf, als unbegründet zurück. Die von der Beschwerdeführerin in allen drei Ablehnungsverfahren erhobenen Anhörungsrügen blieben jeweils erfolglos.

Die Beschwerdeführerin rügt mit ihren Verfassungsbeschwerden u.a. eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sowie eine Verletzung des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG. Das OLG habe den im Ablehnungsverfahren geltenden Amtsermittlungsgrundsatz verletzt, weil es mangels Einholung dienstlicher Stellungnahmen aller an den Beschlüssen über die Geschäftsverteilung beteiligten Richter die Umstände der Zuweisung der Berichterstattung für das Musterverfahren nicht weiter aufgeklärt habe.

Das BVerfG nahm die Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung an.

Die Gründe:
Die Verfassungsbeschwerden sind mangels einer den Anforderungen der §§ 92, 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 BVerfGG genügenden Begründung unzulässig, weil eine Verletzung der Beschwerdeführerin in ihren Grundrechten nicht dargelegt wird.

Ein Verstoß gegen den Grundsatz der Amtsermittlung und eine Verletzung des Rechtsstaatsgebots in der Ausprägung des Anspruchs auf Justizgewähr durch den Beschluss über die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs gegen den Senatsvorsitzenden und den Berichterstatter für das Musterverfahren wird nicht hinreichend begründet. Das Rechtsstaatsprinzip des GG enthält die Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes, der die grundsätzlich umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Verfahrensgegenstands ermöglichen muss. Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG verleiht dem Einzelnen zwar einen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle. Eine Verletzung der einfachgesetzlichen Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung begründet aber grundsätzlich noch keinen Verfassungsverstoß.

Ein Verfassungsverstoß kommt nur unter besonderen Umständen in Betracht; solche wurden hier weder vorgetragen noch sind sie sonst ersichtlich. Eine weitere Sachaufklärung war nicht erforderlich, da weder die Zuweisung der Berichterstattung für das Kapitalanleger-Musterverfahren noch die Besetzung des für das Musterverfahren zuständigen Senats im März 2018 für den Senatsvorsitzenden Anlass bot, die Geschäftsverteilung zu verschleiern oder nachträglich zu fälschen. Der Vorsitzende kann grundsätzlich im Einzelfall nach seinem Ermessen ohne Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG bestimmen, wer von den Mitgliedern einer konkreten Sitzgruppe die Aufgaben des Berichterstatters wahrnimmt. Zwar unterliegt die Erstellung der Geschäftsverteilungspläne den Bindungen des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Für einen überbesetzten Spruchkörper muss sich aus dem spruchkörperinternen Geschäftsverteilungsplan durch eine abstrakt-generelle und hinreichend klare Regelung ergeben, wer bei der Entscheidung welcher Verfahren mitwirkt. Das Gebot des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verlangt dementsprechend auch, dass der Berichterstatter bereits im Geschäftsverteilungsplan nach abstrakt-generellen und hinreichend klaren Regelungen festgelegt sein muss, wenn die Entscheidung eines Rechtsstreits vom Kollegialgericht auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen werden soll.

Da nach § 11 Abs. 1 Satz 2 KapMuG die Übertragung auf den Einzelrichter nach §§ 348 ff. ZPO ausgeschlossen ist, bestand für den Senatsvorsitzenden jedoch kein Anlass, die Zuweisung der Berichterstattung für das Musterverfahren an einen bestimmten Beisitzer durch Zurückhaltung oder Fälschung von Geschäftsverteilungsplänen zu verschleiern. Wenn sich aus dem spruchkörperinternen Geschäftsverteilungsplan durch eine abstrakt-generelle und hinreichend klare Regelung ergibt, welcher Richter bei der Entscheidung welcher Verfahren mitwirkt, ist auch eine strenge zahlenmäßige Begrenzung auf weniger als das Doppelte der gesetzlichen Mitgliederzahl jedenfalls grundsätzlich nicht erforderlich. Allein der Verweis auf die Anzahl von sechs Richtern reicht zur Begründung eines Verstoßes gegen die Garantie des gesetzlichen Richters aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG daher nicht aus.

Die Rüge, der Senat habe mit falscher Besetzung über das Ablehnungsgesuch entschieden und so das Recht der Beschwerdeführerin auf den gesetzlichen Richter verletzt, wird ebenfalls nicht hinreichend substantiiert begründet. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gebietet keine verfassungskonforme Auslegung dahingehend, dass über den Wortlaut des § 41 Nr. 6 ZPO hinaus von der Ausübung des Richteramtes ausgeschlossen ist, wer mit der Sache zwar bereits befasst, aber an der angefochtenen Entscheidung nicht beteiligt war.
BVerfG PM Nr. 87 vom 25.9.2020
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