Verstoß gegen fusionskontrollrechtliche Vorschriften
EuG v. 18.5.2022 - T-609/19
Der Sachverhalt:
2016 übernahm die klagende Canon Inc., ein japanisches multinationales Unternehmen, das auf die Herstellung von optischen und bildgebenden Geräten spezialisiert ist, die Toshiba Medical Systems Corporation (TMSC), eine 100-prozentige Tochter der Toshiba Corporation (im Folgenden: Toshiba). Dieser Erwerb wurde in zwei Stufen durchgeführt, und zwar mittels einer Zweckgesellschaft (MS Holding), die eigens dafür eingerichtet wurde. In einem ersten Schritt erwarb die MS Holding am 17.3.2016 für rd. 800 € einige stimmberechtigte Aktien von TMSC, während die Klägerin gegen Zahlung des für den Erwerb von TMSC vereinbarten Gesamtpreises (rd. 5,3 Mio. €) Kaufoptionen auf die verbleibenden stimmberechtigten Aktien von TMSC erwarb. Die Klägerin erwarb außerdem die einzige stimmrechtslose Aktie von TMSC für rd. 40 € (im Folgenden: zwischengeschaltete Transaktion).
In einem zweiten Schritt übte die Klägerin am 19.12.2016, nachdem sie die fusionskontrollrechtliche Genehmigung der Kommission erhalten hatte, ihre Kaufoptionen auf die stimmberechtigten Aktien von TMSC aus, während TMSC seine von der MS Holding gehaltenen stimmberechtigten Aktien und die von der Klägerin gehaltene stimmrechtslose Aktie erwarb (im Folgenden: endgültige Transaktion). Mit diesen beiden Transaktionen wurde TMSC zu einer 100-prozentigen Tochter der Klägerin. Hintergrund dieses gestuften Erwerbs war, dass die Veräußerung von TMSC spätestens am 31.3.2016 im Abschluss von Toshiba als Kapitalzuführung ausgewiesen sein, die Klägerin aber formal die Kontrolle über TMSC erst dann erwerben sollte, wenn die zuständigen Wettbewerbsbehörden die erforderlichen Genehmigungen erteilt hatten. Nach einer Voranmeldung im März 2016 meldete die Klägerin den Zusammenschluss im August 2016 bei der Kommission an, und diese genehmigte ihn im September 2016.
Parallel dazu leitete die Kommission allerdings eine Untersuchung wegen möglicher Verstöße gegen die in der Fusionskontrollverordnung (Verordnung (EG) Nr. 139/2004) vorgesehen Verpflichtungen zur Anmeldung und zum Aufschub des Zusammenschlusses ein. Danach müssen die an einem Zusammenschluss von europäischer Bedeutung beteiligten Unternehmen ihre Pläne vor deren Durchführung bei der Kommission zur Prüfung anmelden (Anmeldepflicht) und dürfen den angemeldeten Zusammenschluss erst vollziehen, wenn die Kommission ihre Genehmigung dazu erteilt hat (Stillhaltepflicht). Mit Beschluss vom 27.6.2019 stellte die Kommission fest, dass die Klägerin gegen diese Pflichten verstoßen habe, weil sie den Erwerb von TMSC vorzeitig vollzogen habe. Die Kommission vertrat im Wesentlichen die Auffassung, dass die Klägerin mit der zwischengeschalteten Transaktion den einzigen Zusammenschluss in Form des Erwerbs von TMSC teilweise vollzogen und damit gegen die Anmelde- und die Stillhaltepflicht verstoßen habe. Daher verhängte sie zwei Geldbußen i.H.v. insgesamt 28 Mio. € gegen die Klägerin.
Das EuG wies die hiergegen gerichtete Nichtigkeitsklage ab.
Die Gründe:
Das Gericht weist zunächst das Vorbringen der Klägerin zurück, wonach die zwischengeschaltete Transaktion nicht dazu geführt habe, dass sie die Kontrolle über TMSC erworben habe, so dass auch kein Verstoß gegen die Anmelde- und die Stillhaltepflicht nach der Fusionskontrollverordnung vorliege. Nach ständiger EuGH-Rechtsprechung tritt der Vollzug eines Zusammenschlusses ein, sobald die an dem Zusammenschluss Beteiligten Handlungen vornehmen, die zu einer dauerhaften Veränderung der Kontrolle über das Zielunternehmen beitragen. Ein teilweiser Vollzug eines Zusammenschlusses fällt daher unter die Stillhaltepflicht. Dies entspricht dem Gebot einer wirksamen Kontrolle von Zusammenschlüssen. Unter diesem Blickwinkel behandelt die Fusionskontrollverordnung Vorgänge, die eng miteinander verknüpft sind, als einen einzigen Zusammenschluss. Eine Ausnahme gilt in Fällen, in denen diese Vorgänge nicht erforderlich sind, um eine Veränderung der Kontrolle über das Zielunternehmen herbeizuführen, und somit keinen unmittelbaren funktionellen Zusammenhang mit dem Vollzug des Zusammenschlusses aufweisen.
Die Kommission hat daher zu Recht festgestellt, dass in der Rechtsprechung des EuGH zwischen Zusammenschluss und Vollzug des Zusammenschlusses unterschieden wird. Denn ein Zusammenschluss wird zwar dadurch bewirkt, dass eine dauerhafte Veränderung der Kontrolle stattfindet, doch kann der Vollzug eines Zusammenschlusses eintreten, sobald die an einem Zusammenschluss Beteiligten Handlungen vornehmen, die zu einer dauerhaften Veränderung der Kontrolle über das Zielunternehmen beitragen, also möglicherweise auch schon vor dem Erwerb der Kontrolle über das Zielunternehmen. Um zu bestimmen, ob die Klägerin gegen die Anmelde- und die Stillhaltepflicht verstoßen hat, ist daher nicht darauf abzustellen, ob sie vor der Genehmigung des Zusammenschlusses die Kontrolle über TMSC erworben hat, sondern darauf, ob die beanstandeten Handlungen ganz oder teilweise faktisch oder rechtlich schon vor diesem Zeitpunkt zu einer Veränderung der Kontrolle über dieses Unternehmen beitrugen. Die Kontrolle ist jedoch erst erworben, sobald eine Einheit die Möglichkeit hat, einen bestimmenden Einfluss über die Zielgesellschaft auszuüben, anderenfalls ist sie nicht erworben. Daher kann eine vorgebliche Teilkontrolle nicht die Voraussetzung für einen Teilvollzug des Zusammenschlusses sein. Die Kontrolle durch die Kommission ist nur dann wirksam, wenn sie vor dem - auch nur teilweisen - Vollzug des Zusammenschlusses erfolgt.
Ein Zusammenschluss kann durch eine Mehrzahl formal getrennter Rechtsgeschäfte bewirkt werden. Die Kommission hat in einem solchen Fall zu prüfen, ob diese Geschäfte einen einzigen Zusammenschluss darstellen, weil sie einen einheitlichen Charakter haben. Bei mehreren rechtlich getrennten Geschäften muss die Kommission also anhand der tatsächlichen und rechtlichen Umstände des jeweiligen Falles den von den Beteiligten verfolgten wirtschaftlichen Zweck feststellen, indem sie prüft, ob die beteiligten Unternehmen bereit gewesen wären, jedes Geschäft isoliert abzuschließen, oder ob im Gegenteil jedes Geschäft nur ein Bestandteil eines komplexeren Vorgangs ist, ohne den es von den Parteien nicht abgeschlossen worden wäre. Vorliegend hat die Kommission die zwischengeschaltete Transaktion rechtsfehlerfrei als einen Teilvollzug des Zusammenschlusses eingestuft. Sie hat zu Recht festgestellt, dass die Klägerin ab dem Zeitpunkt der zwischengeschalteten Transaktion unabhängig davon, wie die Fusionskontrollgenehmigung ausfallen würde, die Möglichkeit erlangt hatte, einen gewissen Einfluss auf TMSC auszuüben, weil sie nach der Durchführung dieser Transaktion allein über die Identität des endgültigen Käufers von TMSC bestimmen konnte.
Schließlich überzeugt auch das Vorbringen der Klägerin nicht, wonach die zwischengeschaltete Transaktion keinen unmittelbaren funktionellen Zusammenhang mit der Veränderung der Kontrolle über TMSC aufweise und daher nicht zu dieser Veränderung beigetragen habe. Es wäre Toshiba ohne diese von der Klägerin vorgeschlagene zweistufige Transaktionsstruktur nicht möglich gewesen, die Kontrolle über TMSC abzugeben und das Entgelt für TMSC unwiderruflich vor März 2016 zu erhalten. Im Rahmen dieser zweistufigen Struktur war die zwischengeschaltete Transaktion außerdem ein notwendiger Schritt, um eine Veränderung der Kontrolle über TMSC zu erreichen. Zweck dieser zweistufigen Struktur war nämlich, es mit der zwischengeschalteten Transaktion erstens einem Zwischenerwerber zu ermöglichen, alle stimmberechtigten Aktien von TMSC zu kaufen, und es zweitens der Klägerin zu ermöglichen, das Entgelt für TMSC unwiderruflich an Toshiba zu zahlen und dabei die größtmögliche Sicherheit zu erlangen, dass sie schließlich die Kontrolle über TMSC erwerben werde.
Mehr zum Thema:
EuG PM Nr. 86 vom 18.5.2022
2016 übernahm die klagende Canon Inc., ein japanisches multinationales Unternehmen, das auf die Herstellung von optischen und bildgebenden Geräten spezialisiert ist, die Toshiba Medical Systems Corporation (TMSC), eine 100-prozentige Tochter der Toshiba Corporation (im Folgenden: Toshiba). Dieser Erwerb wurde in zwei Stufen durchgeführt, und zwar mittels einer Zweckgesellschaft (MS Holding), die eigens dafür eingerichtet wurde. In einem ersten Schritt erwarb die MS Holding am 17.3.2016 für rd. 800 € einige stimmberechtigte Aktien von TMSC, während die Klägerin gegen Zahlung des für den Erwerb von TMSC vereinbarten Gesamtpreises (rd. 5,3 Mio. €) Kaufoptionen auf die verbleibenden stimmberechtigten Aktien von TMSC erwarb. Die Klägerin erwarb außerdem die einzige stimmrechtslose Aktie von TMSC für rd. 40 € (im Folgenden: zwischengeschaltete Transaktion).
In einem zweiten Schritt übte die Klägerin am 19.12.2016, nachdem sie die fusionskontrollrechtliche Genehmigung der Kommission erhalten hatte, ihre Kaufoptionen auf die stimmberechtigten Aktien von TMSC aus, während TMSC seine von der MS Holding gehaltenen stimmberechtigten Aktien und die von der Klägerin gehaltene stimmrechtslose Aktie erwarb (im Folgenden: endgültige Transaktion). Mit diesen beiden Transaktionen wurde TMSC zu einer 100-prozentigen Tochter der Klägerin. Hintergrund dieses gestuften Erwerbs war, dass die Veräußerung von TMSC spätestens am 31.3.2016 im Abschluss von Toshiba als Kapitalzuführung ausgewiesen sein, die Klägerin aber formal die Kontrolle über TMSC erst dann erwerben sollte, wenn die zuständigen Wettbewerbsbehörden die erforderlichen Genehmigungen erteilt hatten. Nach einer Voranmeldung im März 2016 meldete die Klägerin den Zusammenschluss im August 2016 bei der Kommission an, und diese genehmigte ihn im September 2016.
Parallel dazu leitete die Kommission allerdings eine Untersuchung wegen möglicher Verstöße gegen die in der Fusionskontrollverordnung (Verordnung (EG) Nr. 139/2004) vorgesehen Verpflichtungen zur Anmeldung und zum Aufschub des Zusammenschlusses ein. Danach müssen die an einem Zusammenschluss von europäischer Bedeutung beteiligten Unternehmen ihre Pläne vor deren Durchführung bei der Kommission zur Prüfung anmelden (Anmeldepflicht) und dürfen den angemeldeten Zusammenschluss erst vollziehen, wenn die Kommission ihre Genehmigung dazu erteilt hat (Stillhaltepflicht). Mit Beschluss vom 27.6.2019 stellte die Kommission fest, dass die Klägerin gegen diese Pflichten verstoßen habe, weil sie den Erwerb von TMSC vorzeitig vollzogen habe. Die Kommission vertrat im Wesentlichen die Auffassung, dass die Klägerin mit der zwischengeschalteten Transaktion den einzigen Zusammenschluss in Form des Erwerbs von TMSC teilweise vollzogen und damit gegen die Anmelde- und die Stillhaltepflicht verstoßen habe. Daher verhängte sie zwei Geldbußen i.H.v. insgesamt 28 Mio. € gegen die Klägerin.
Das EuG wies die hiergegen gerichtete Nichtigkeitsklage ab.
Die Gründe:
Das Gericht weist zunächst das Vorbringen der Klägerin zurück, wonach die zwischengeschaltete Transaktion nicht dazu geführt habe, dass sie die Kontrolle über TMSC erworben habe, so dass auch kein Verstoß gegen die Anmelde- und die Stillhaltepflicht nach der Fusionskontrollverordnung vorliege. Nach ständiger EuGH-Rechtsprechung tritt der Vollzug eines Zusammenschlusses ein, sobald die an dem Zusammenschluss Beteiligten Handlungen vornehmen, die zu einer dauerhaften Veränderung der Kontrolle über das Zielunternehmen beitragen. Ein teilweiser Vollzug eines Zusammenschlusses fällt daher unter die Stillhaltepflicht. Dies entspricht dem Gebot einer wirksamen Kontrolle von Zusammenschlüssen. Unter diesem Blickwinkel behandelt die Fusionskontrollverordnung Vorgänge, die eng miteinander verknüpft sind, als einen einzigen Zusammenschluss. Eine Ausnahme gilt in Fällen, in denen diese Vorgänge nicht erforderlich sind, um eine Veränderung der Kontrolle über das Zielunternehmen herbeizuführen, und somit keinen unmittelbaren funktionellen Zusammenhang mit dem Vollzug des Zusammenschlusses aufweisen.
Die Kommission hat daher zu Recht festgestellt, dass in der Rechtsprechung des EuGH zwischen Zusammenschluss und Vollzug des Zusammenschlusses unterschieden wird. Denn ein Zusammenschluss wird zwar dadurch bewirkt, dass eine dauerhafte Veränderung der Kontrolle stattfindet, doch kann der Vollzug eines Zusammenschlusses eintreten, sobald die an einem Zusammenschluss Beteiligten Handlungen vornehmen, die zu einer dauerhaften Veränderung der Kontrolle über das Zielunternehmen beitragen, also möglicherweise auch schon vor dem Erwerb der Kontrolle über das Zielunternehmen. Um zu bestimmen, ob die Klägerin gegen die Anmelde- und die Stillhaltepflicht verstoßen hat, ist daher nicht darauf abzustellen, ob sie vor der Genehmigung des Zusammenschlusses die Kontrolle über TMSC erworben hat, sondern darauf, ob die beanstandeten Handlungen ganz oder teilweise faktisch oder rechtlich schon vor diesem Zeitpunkt zu einer Veränderung der Kontrolle über dieses Unternehmen beitrugen. Die Kontrolle ist jedoch erst erworben, sobald eine Einheit die Möglichkeit hat, einen bestimmenden Einfluss über die Zielgesellschaft auszuüben, anderenfalls ist sie nicht erworben. Daher kann eine vorgebliche Teilkontrolle nicht die Voraussetzung für einen Teilvollzug des Zusammenschlusses sein. Die Kontrolle durch die Kommission ist nur dann wirksam, wenn sie vor dem - auch nur teilweisen - Vollzug des Zusammenschlusses erfolgt.
Ein Zusammenschluss kann durch eine Mehrzahl formal getrennter Rechtsgeschäfte bewirkt werden. Die Kommission hat in einem solchen Fall zu prüfen, ob diese Geschäfte einen einzigen Zusammenschluss darstellen, weil sie einen einheitlichen Charakter haben. Bei mehreren rechtlich getrennten Geschäften muss die Kommission also anhand der tatsächlichen und rechtlichen Umstände des jeweiligen Falles den von den Beteiligten verfolgten wirtschaftlichen Zweck feststellen, indem sie prüft, ob die beteiligten Unternehmen bereit gewesen wären, jedes Geschäft isoliert abzuschließen, oder ob im Gegenteil jedes Geschäft nur ein Bestandteil eines komplexeren Vorgangs ist, ohne den es von den Parteien nicht abgeschlossen worden wäre. Vorliegend hat die Kommission die zwischengeschaltete Transaktion rechtsfehlerfrei als einen Teilvollzug des Zusammenschlusses eingestuft. Sie hat zu Recht festgestellt, dass die Klägerin ab dem Zeitpunkt der zwischengeschalteten Transaktion unabhängig davon, wie die Fusionskontrollgenehmigung ausfallen würde, die Möglichkeit erlangt hatte, einen gewissen Einfluss auf TMSC auszuüben, weil sie nach der Durchführung dieser Transaktion allein über die Identität des endgültigen Käufers von TMSC bestimmen konnte.
Schließlich überzeugt auch das Vorbringen der Klägerin nicht, wonach die zwischengeschaltete Transaktion keinen unmittelbaren funktionellen Zusammenhang mit der Veränderung der Kontrolle über TMSC aufweise und daher nicht zu dieser Veränderung beigetragen habe. Es wäre Toshiba ohne diese von der Klägerin vorgeschlagene zweistufige Transaktionsstruktur nicht möglich gewesen, die Kontrolle über TMSC abzugeben und das Entgelt für TMSC unwiderruflich vor März 2016 zu erhalten. Im Rahmen dieser zweistufigen Struktur war die zwischengeschaltete Transaktion außerdem ein notwendiger Schritt, um eine Veränderung der Kontrolle über TMSC zu erreichen. Zweck dieser zweistufigen Struktur war nämlich, es mit der zwischengeschalteten Transaktion erstens einem Zwischenerwerber zu ermöglichen, alle stimmberechtigten Aktien von TMSC zu kaufen, und es zweitens der Klägerin zu ermöglichen, das Entgelt für TMSC unwiderruflich an Toshiba zu zahlen und dabei die größtmögliche Sicherheit zu erlangen, dass sie schließlich die Kontrolle über TMSC erwerben werde.
- Aufsatz: Bernhagen - Der Formwechsel und die Sperrfrist des § 22 UmwStG (GmbHR 2022, 301)
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