08.12.2015

Ältere nachveröffentlichte Patentanmeldung kann auch trotz Rücknahme bei Neuheitsprüfung zu berücksichtigen sein

Eine ältere nachveröffentlichte Patentanmeldung ist bei der Neuheitsprüfung auch dann zu berücksichtigen, wenn sie nach ihrer Veröffentlichung zurückgenommen wird oder als zurückgenommen gilt. Sie ist wegen ihrer Rücknahme, Zurückweisung oder Erledigung durch Nichtzahlung der Jahresgebühr nur dann nicht mit ihrem Prioritätstag zu berücksichtigen, wenn sie infolgedessen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht mehr anhängig war.

BGH 8.9.2015, X ZR 113/13
Der Sachverhalt:
Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des auch für Deutschland erteilten europäischen Patents 595 790 (Streitpatent), das unter Inanspruchnahme der Priorität der deutschen Patentanmeldung 41 12 712.9 (NK4) vom 18.4.1991 am 9.4.1992 angemeldet worden war und nach Klageerhebung durch Zeitablauf erloschen ist.

Das Streitpatent betraf ein Verfahren zur Sendung von Fernsehsignalen. Fernsehsignale im Breitbildformat 16:9 werden gemäß der zum Prioritätszeitpunkt in Aussicht genommenen PALplus-Norm kompatibel zur damals gültigen PAL-Norm so übertragen, dass sie in herkömmlichen Fernseher mit dem Bildformat 4:3 als "Letterbox-Bild" mit schwarzen Balken am oberen und unteren Bildrand wiedergegeben werden können. Damit Fernseher mit Bildschirmen im 16:9-Format aus dem Letterbox-Signal das ursprüngliche Fernsehsignal mit einer erhöhten Bildauflösung generieren können, wird für die Zeilen der schwarzen Balken der Schwarzwert angehoben, so dass in diesen Zeilen weitere Bildinformationen übertragen werden können. Der Erfindung liegt die Aufgabe zugrunde, mit dem Fernsehsignal Informationen zur jeweils übertragenen Signalart auf eine den bisherigen Standard möglichst wenig berührende Weise mit zu übertragen.

Die Klägerin, die wegen Verletzung des Streitpatents in Anspruch genommen worden war, machte mit der Nichtigkeitsklage geltend, dem Gegenstand des Streitpatents, das die angegebene Priorität nicht wirksam beanspruchen könne, fehle die Patentfähigkeit. Weiterhin sei der Gegenstand nicht in einer für den Fachmann ausführbaren Weise offenbart. Das Patentgericht hat das Streitpatent teilweise für nichtig erklärt. Der BGH hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.

Gründe:
Das Streitpatent konnte die Priorität der deutschen Voranmeldung (NK4) vom 18.4.1991 nicht in Anspruch nehmen. Gem. Art. 87 Abs. 1 EPÜ kann die Priorität einer früheren Anmeldung nur dann in Anspruch genommen werden, wenn diese dieselbe Erfindung betrifft. Dies setzt voraus, dass die mit der späteren Anmeldung beanspruchte Merkmalskombination dem Fachmann in der früheren Anmeldung in ihrer Gesamtheit als zu der angemeldeten Erfindung gehörend offenbart ist. Für die Beurteilung der identischen Offenbarung gelten die Prinzipien der Neuheitsprüfung.

Im vorliegenden Fall war ein Merkmal in dem Prioritätsdokument NK4 nicht unmittelbar und eindeutig offenbart. Die Übertragung einer Signalart-Zusatzinformation für das Senden von Letterbox-Signalen ohne (Video-)Zusatzinformationen in den Zeilen der "schwarzen Balken" wurde in der NK4 nicht ausdrücklich erwähnt. Der Fachmann, den das Patentgericht zutreffend als einen Diplomingenieur der Nachrichtentechnik mit Hochschulausbildung sowie besonderen Erfahrungen und Kenntnissen in der Fernsehübertragungstechnik einschließlich der dabei zu berücksichtigenden Standardisierungsvorschriften definiert hatte, vermochte dieses Merkmal auch nicht der Gesamtheit der in der NK4 offenbarten Informationen und Hinweise zu entnehmen.

Die ältere Anmeldung war zu einem Zeitpunkt veröffentlicht worden, zu dem sie noch anhängig war. Damit war sie für die Neuheitsprüfung gem. Art. 54 Abs. 3 EPÜ zu berücksichtigen, auch wenn sie seit 1996 wegen Nichtzahlung einer Jahresgebühr als zurückgenommen galt. Wird die Anmeldung nach ihrer Veröffentlichung zurückgenommen, fällt damit zwar auch die Möglichkeit einer Doppelpatentierung weg. Dies rechtfertigt aber kein einschränkendes Verständnis des Art. 54 Abs. 3 EPÜ, der kein Doppelpatentierungsverbot formuliert, sondern zum Stand der Technik den gesamten Inhalt einer älteren nachveröffentlichten europäischen Patentanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung zählt.

Schon die Entscheidung des Europäischen Patentübereinkommens für die Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Anmeldung ("whole content approach") und gegen die vom Straßburger Übereinkommen in Art. 4 Abs. 3 u. Art. 6 eröffnete Möglichkeit, auf die Ansprüche der früheren Anmeldung abzustellen ("prior claim approach"), macht deutlich, dass die (umfassende) Berücksichtigung älterer Anmeldungen bei dem für die Neuheitsprüfung maßgeblichen Stand der Technik nicht nur dazu bestimmt ist, einer Doppelpatentierung vorzubeugen. Sie soll auch den Erstanmelder vor einer Einschränkung seiner wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit durch die Erteilung eines Patents auf die von ihm offenbarte Erfindung aufgrund einer späteren Anmeldung eines Dritten schützen. Dieser Schutzzweck verliert nicht an Bedeutung, wenn der ältere Anmelder sich nach der Veröffentlichung seiner Anmeldung entscheidet, die Anmeldung zurückzunehmen.

Linkhinweis:

  • Der Volltext der Entscheidung ist auf der Homepage des BGH veröffentlicht.
  • Um direkt zum Volltext zu kommen, klicken Sie bitte hier.
BGH online
Zurück