Frage des Verstoßes eines Flughafenbetreibers gegen das beihilferechtliche Durchführungsverbot
BGH 9.2.2017, I ZR 91/15Die Klägerin ist die Fluggesellschaft Air Berlin. Sie hatte beanstandet, dass die beklagte Hansestadt Lübeck der Fluggesellschaft Ryanair günstige Bedingungen für die Nutzung des Flughafens Lübeck-Blankensee gewährt habe, die sie für unionsrechtswidrige Beihilfen hielt. Zur Vorbereitung eines Anspruchs auf Rückforderung verlangte die Klägerin von der Beklagten Auskunft über die Ryanair gewährten Vergünstigungen. Das LG gab der Auskunftsklage statt. Nach Verkündung des Urteils eröffnete die EU-Kommission im Juli 2007 ein förmliches Prüfverfahren zu möglichen staatlichen Beihilfen zugunsten der Flughafen Lübeck GmbH und Ryanair (ABl. EU 2007 Nr. C 295, S. 29 - "Eröffnungsbeschluss"). Danach stellten die Ryanair gewährten Konditionen nach vorläufiger Einschätzung der Kommission staatliche Beihilfen i.S.v. Art. 108 Abs. 3 AEUV dar.
Das OLG wies die Auskunftsklage hingegen ab, da keine rechtliche Grundlage für Ansprüche der Klägerin bestehe. Der BGH hat dieses erste Berufungsurteil mit der Begründung aufgehoben, ein Verstoß gegen das beihilferechtliche Durchführungsverbot nach Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV könne einen Schadensersatzanspruch der Klägerin begründen. Der daraufhin vom OLG um eine Vorabentscheidung ersuchte EuGH war der Ansicht, dass nach einem Eröffnungsbeschluss der Kommission ein mit einem Antrag auf Unterlassung der Durchführung einer Maßnahme und auf Rückforderung bereits geleisteter Zahlungen befasstes nationales Gericht verpflichtet sei, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um die Konsequenzen aus einem möglichen Verstoß gegen das Durchführungsverbot zu ziehen; insofern könne es beschließen, die Rückforderung bereits gezahlter Beträge anzuordnen.
Das OLG wies daraufhin die Berufung der Beklagten zurück. Es sah sich an die vorläufige Einschätzung der Kommission gebunden, die gewährten Konditionen unzulässige staatliche Beihilfen darstellten. Auf die Revision von Ryanair hat der BGH nun auch das zweite Berufungsurteil aufgehoben.
Gründe:
Das LG hatte im Hinblick auf einen weiterhin in erster Instanz anhängigen Unterlassungsantrag der Klägerin ein unzulässiges Teilurteil verkündet und das OLG hatte diesen Mangel nicht behoben. Die Sache war infolgedessen an das LG zurückzuverweisen.
Nach der Revisionsverhandlung hat die EU-Kommission laut einer Pressemitteilung am 7.2.2017 entschieden, dass die im Jahr 2000 zwischen der Rechtsvorgängerin der Beklagten und Ryanair abgeschlossene Vereinbarung über Flughafengebühren und Marketing keine Beihilfe darstellt. Die Bedeutung der Entscheidung, zu der bislang nur die Presseerklärung vorliegt, für den vorliegenden Rechtsstreit lässt sich derzeit nicht abschließend beurteilen. Sollte sich jedoch erweisen, dass keine der von der Klägerin beanstandeten Maßnahmen eine Beihilfe darstellt, läge kein Verstoß gegen das Unionsrecht vor.
Nationale Gerichte dürfen zwar grundsätzlich nicht von der vorläufigen Beurteilung der Kommission im Eröffnungsbeschluss abweichen. Eine absolute und unbedingte Verpflichtung, dieser vorläufigen Beurteilung ohne Weiteres zu folgen, besteht aber nicht. Hat das nationale Gericht nämlich Zweifel, kann es eine Anfrage an die Kommission richten oder den EuGH um eine Vorabentscheidung ersuchen.
Insbesondere können vor dem nationalen Gericht vorgetragene Umstände, die nicht erkennbar im Eröffnungsbeschluss berücksichtigt wurden, Anlass geben, die Kommission um eine Stellungnahme zu bitten, ob sie eine gegenüber dem Eröffnungsbeschluss abweichende beihilferechtliche Beurteilung erlauben. Hält die Kommission weiter an ihrer Auffassung fest, erscheinen dem Gericht die dafür angeführten Gründe jedoch nicht überzeugend, so hat es den EuGH um eine Vorabentscheidung zu ersuchen.
Hat das Gericht danach bis zu einer endgültigen Entscheidung durch die Kommission vorläufig von der Beihilfequalität der beanstandeten Maßnahmen auszugehen, folgt daraus allein noch nicht, dass der Auskunfts- und Rückforderungsanspruch besteht. Vielmehr muss das Gericht darüber unter Beachtung des Gebots, dem Eröffnungsbeschluss der Kommission praktische Wirksamkeit verschaffen und unter Wahrung der Interessen der beteiligten Parteien und gegebenenfalls unter Berücksichtigung außergewöhnlicher Umstände des Einzelfalls entscheiden. Außerdem ist das Verhältnismäßigkeitsgebot zu beachten. Unverhältnismäßig kann die Rückforderung aufgrund einer vorläufigen Einschätzung der Kommission etwa sein, wenn die Beihilfe mit hoher Wahrscheinlichkeit für mit dem Binnenmarkt vereinbar zu erklären ist, und die Rückforderung die Existenz des davon betroffenen Unternehmens ernsthaft bedroht.
Im vorliegenden Fall war zu berücksichtigen, dass die Kommission das Hauptprüfverfahren im Juli 2007 eröffnet und jedenfalls bis zur mündlichen Revisionsverhandlung nicht abgeschlossen hatte. Sie hat sich auf Frage des OLG noch im März 2012 nicht in der Lage gesehen, Angaben zur voraussichtlichen weiteren Dauer des Hauptprüfverfahrens zu machen. Zwischenzeitlich betreibt die Beklagte keinen Flughafen mehr und Ryanair hat den Flugverkehr zum Flughafen Lübeck eingestellt. Eine noch bestehende wettbewerbsverzerrende Wirkung durch in den Jahren 2000 bis 2004 an die Streithelferin für Flugverbindungen zum Flughafen Lübeck gezahlte Beihilfen erscheint danach fraglich.
Linkhinweise:
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