Geldbußen gegen VW in Italien und in Deutschland: Zum Verbot der Doppelbestrafung
EuGH v. 14.9.2023 - C-27/22Am 4.8.2016 verhängte die Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato (AGCM) gegen die Volkswagen Group Italia SpA (VWGI) und die Volkswagen Aktiengesellschaft (VWAG) eine Geldbuße i.H.v. 5 Mio. € wegen unlauterer Geschäftspraktiken gegenüber Verbrauchern. Diese Praktiken betrafen zum einen das Inverkehrbringen von Dieselfahrzeugen in Italien ab dem Jahr 2009, in die eine Software eingebaut war, mit der die Messung der Stickoxid (NOx)-Emissionswerte bei der Überprüfung von Schadstoffemissionen verändert werden konnte, und zum anderen die Verbreitung von Werbung, in der betont wurde, dass diese Fahrzeuge den Vorgaben der Umweltschutzvorschriften entsprächen. Die VWGI und die VWAG fochten diese Entscheidung vor dem Regionalen Verwaltungsgericht Latium in Italien an.
In der Zwischenzeit verhängte die Staatsanwaltschaft Braunschweig gegen die VWAG eine Geldbuße i.H.v. 1 Mrd. € mit der Begründung, dass die VWAG in Bezug auf die Entwicklung dieser Software und deren Einbau in 10,7 Millionen weltweit in Verkehr gebrachte Dieselfahrzeuge (wovon 700.000 in Italien verkauft wurden) gegen die Bestimmungen des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten, die die fahrlässige Verletzung der Aufsichtspflicht bei der Tätigkeit von Unternehmen ahnden, verstoßen habe. Die deutsche Entscheidung wurde am 13.6.2018 rechtskräftig, da die VWAG die Geldbuße zahlte und förmlich auf die Einlegung eines Rechtsbehelfs verzichtete.
Die VWGI und die VWAG machten geltend, dass die italienische Entscheidung in der Folge wegen Verstoßes gegen den Grundsatz ne bis in idem rechtswidrig geworden sei. Dieser in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Grundsatz verbietet eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die strafrechtlicher Natur sind, gegenüber derselben Person wegen derselben Tat.
Der italienische Staatsrat, bei dem nach Abweisung der Klage im ersten Rechtszug ein Rechtsmittel eingelegt wurde, hat das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob der Grundsatz im vorliegenden Fall Anwendung findet.
Die Gründe:
Die wegen unlauterer Geschäftspraktiken verhängten Sanktionen sind als Verwaltungssanktionen strafrechtlicher Natur einzustufen. Für die Beurteilung der strafrechtlichen Natur der fraglichen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen sind drei Kriterien maßgebend:
- Das erste Kriterium betrifft die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht: Die Anwendung von Art. 50 der Charta der Grundrechte beschränkt sich nicht allein auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die im nationalen Recht als "strafrechtlich" eingestuft werden, sondern erstreckt sich - unabhängig von einer solchen innerstaatlichen Einordnung - auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die strafrechtlicher Natur sind.
- Das zweite Kriterium bezieht sich auf die Art der Zuwiderhandlung und erfordert die Prüfung, ob mit der fraglichen Sanktion u.a. eine repressive Zielsetzung verfolgt wird.
- Das dritte Kriterium bezieht sich auf den Schweregrad der dem Betroffenen drohenden Sanktion: Dieser Schweregrad wird nach Maßgabe der in den einschlägigen Bestimmungen vorgesehenen Höchststrafe beurteilt.
Bei Berücksichtigung dieser drei Kriterien ergibt sich der Schluss, dass eine Geldbuße, die von der für den Verbraucherschutz zuständigen nationalen Behörde gegen eine Gesellschaft wegen unlauterer Geschäftspraktiken verhängt wird, eine strafrechtliche Sanktion darstellt, auch wenn sie in den nationalen Rechtsvorschriften als Verwaltungssanktion eingestuft wird. Das gilt jedenfalls dann, wenn sie eine repressive Zielsetzung verfolgt und einen hohen Schweregrad aufweist.
Der Grundsatz "ne bis in idem" steht einer nationalen Regelung entgegen, die es erlaubt, eine gegen eine juristische Person wegen unlauterer Geschäftspraktiken verhängte Geldbuße strafrechtlicher Natur aufrechtzuerhalten, wenn diese Person wegen derselben Tat in einem anderen Mitgliedstaat strafrechtlich verurteilt worden ist. Das gilt auch dann, wenn diese Verurteilung nach dem Erlass der Entscheidung, mit der die Geldbuße verhängt wurde, erfolgt ist, aber rechtskräftig geworden ist, bevor über den gerichtlichen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung rechtskräftig geurteilt worden ist. Der Grundsatz "ne bis in idem" schließt aus, dass bei Vorliegen einer endgültigen Entscheidung eine Strafverfolgung wegen derselben Tat eingeleitet oder aufrechterhalten werden kann und findet Anwendung, sobald eine strafrechtliche Entscheidung rechtskräftig geworden ist, unabhängig davon, wie sie Rechtskraft erlangt hat. Er kann jedoch nur dann Anwendung finden, wenn die Taten, auf die sich die beiden fraglichen Verfahren bzw. Sanktionen beziehen, identisch sind. Es genügt nicht, dass der Sachverhalt ähnlich ist.
Einschränkungen der Anwendung des Grundsatzes "ne bis in idem" können gerechtfertigt sein, um eine Kumulierung von Verfahren oder Sanktionen wegen derselben Tat zu ermöglichen, sofern drei Voraussetzungen erfüllt sind: Die Kumulierung darf keine übermäßige Belastung für die betreffende Person darstellen, es muss sich anhand klarer und präziser Regeln vorhersehen lassen, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung in Frage kommt, und schließlich müssen die betreffenden Verfahren in hinreichend koordinierter Weise und in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt worden sein.
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