Generalanwalt hält Art. 28 der Verordnung über Leerverkäufe für nichtig
EuGH, C-270/12: Schlussanträge des Generalanwalts vom 12.9.2013Im Jahr 2012 erließ die EU zur Harmonisierung ihrer Reaktion auf Leerverkäufe im Zusammenhang mit der Finanzkrise eine Verordnung über Leerverkäufe. Unter Leerverkäufen ist eine Praxis zu verstehen, bei der Vermögenswerte und Wertpapiere, die sich zum Zeitpunkt des Verkaufs nicht im Eigentum des Verkäufers befinden, in der Absicht verkauft werden, von einem Kursrückgang der Vermögenswerte vor Abwicklung der Transaktion zu profitieren.
Die Verordnung wurde auf der Grundlage von Art. 114 AEUV erlassen, der es ermöglicht, Harmonisierungsmaßnahmen zu treffen, wenn dies zur Errichtung und zum Funktionieren des Binnenmarkts erforderlich ist. Nach Art. 28 der Verordnung verfügt die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) über bestimmte Befugnisse, mittels verbindlicher Rechtsakte in die Finanzmärkte der Mitgliedstaaten einzugreifen, wenn die ordnungsgemäße Funktionsweise und Integrität der Finanzmärkte oder die Stabilität des gesamten oder eines Teils des Finanzsystems in der Union bedroht ist.
Im Mai 2012 erhob das Vereinigte Königreich, das sich im Rechtsetzungsverfahren erfolglos gegen Art. 28 ausgesprochen hatte, beim EuGH Klage auf Nichtigerklärung dieser Bestimmung. Zur Begründung machte es u.a. geltend, Art. 114 AEUV sei nicht die richtige Rechtsgrundlage für ihren Erlass. Außerdem verletzten die der ESMA durch Art. 28 eingeräumten Befugnisse Verfassungsgrundsätze der Union über die Übertragung von Befugnissen durch die Organe.
Zu den Schlussanträgen des Generalanwalts:
Generalanwalt Niilo Jääskinen schlägt vor, Art. 28 der Verordnung mit der Begründung für nichtig zu erklären, dass Art. 114 AEUV keine geeignete Rechtsgrundlage für seinen Erlass ist.
Grundsätzlich spricht zwar nichts gegen eine Heranziehung von Art. 114 AEUV als Rechtsgrundlage für die Ermächtigung von EU-Agenturen zum Erlass rechtsverbindlicher Entscheidungen. Ausschlaggebend ist jedoch die Frage, ob die Entscheidungen der betreffenden Agentur zur Harmonisierung des Binnenmarkts beitragen oder als solche anzusehen sind. Die der ESMA durch Art. 28 der Verordnung eingeräumten Befugnisse gehen darüber hinaus. Allein die ESMA ist befugt, anstelle einer zuständigen nationalen Behörde, die durchaus eine von der Entscheidung der ESMA abweichende Ansicht vertreten kann, rechtsverbindliche Entscheidungen zu treffen.
Diese Entscheidung hat Vorrang vor allen früheren Maßnahmen der nationalen Behörde. Dadurch wird ein Notfall-Entscheidungsmechanismus auf Unionsebene geschaffen, der dann eingreift, wenn sich die nationalen Behörden nicht über die zu ergreifenden Maßnahmen einigen können. Das Ergebnis ist also keine Harmonisierung, sondern die Ersetzung nationaler Entscheidungen durch Entscheidungen auf Unionsebene. Dies überschreitet die Grenzen von Art. 114.
Es ist jedoch anzuerkennen, dass eindeutig ein Bedarf für ein Tätigwerden auf Unionsebene besteht, um zu verhindern, dass Verzerrungen in den Bankensystemen anderer Mitgliedstaaten auftreten, wenn eine nationale Behörde in Bezug auf Leerverkäufe untätig bleibt oder keine angemessenen Maßnahmen ergreift. Art. 352 AEUV wäre aber eine geeignetere Rechtsgrundlage für den Erlass von Art. 28 gewesen. Eine Heranziehung von Art. 352 hätte einen wichtigen Zugang zu erhöhter demokratischer Mitwirkung eröffnet, da dieser Artikel Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten verlangt (Art. 114 dagegen lediglich eine qualifizierte Mehrheit im Rat) und da die Kommission verpflichtet ist, den nationalen Parlamenten alle Vorschläge zur Kenntnis zu bringen, die sich auf diesen Artikel stützen.
Für den Fall, dass der EuGH entgegen dem Vorschlag des Generalanwalts Art. 114 AEUV als geeignete Rechtsgrundlage für Art. 28 der Verordnung ansehen sollte, sollte das übrige Vorbringen des Vereinigten Königreichs zurückgewiesen werden. Die der ESMA eingeräumten Befugnisse stehen im Einklang mit den einschlägigen verfassungsrechtlichen Regeln der Union über die Übertragung von Befugnissen auf eine Agentur und verschafften der ESMA kein zu weitgehendes Ermessen. Art. 28 sieht in Bezug auf die Maßnahmen, zu denen die ESMA befugt ist, spezielle verfahrensrechtliche Schutzvorkehrungen vor, u.a. ausdrückliche Definitionen des Inhalts der Maßnahmen, des Verfahrens für ihren Erlass und ihrer zeitlichen Wirkung. Art. 28 ist Ausdruck einer grundlegenden, vom Unionsgesetzgeber getroffenen politischen Entscheidung, die dahin geht, dass die wesentlichen Wertentscheidungen von ihm getroffen und nicht der ESMA überlassen worden sind.
Linkhinweis:
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