Inkongruenzanfechtung: Verfrühte Leistung im Ganzen zurückzugewähren
BGH v. 14.11.2024 - IX ZR 13/24
Der Sachverhalt:
Der Kläger ist Verwalter in dem auf Eigenantrag vom 15.8.2017 am 1.11.2017 eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der A. Co. KG (Schuldnerin). Das Luftfahrt-Bundesamt der Beklagten leitete bis zum 2.6.2017 insgesamt 314 Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen die Schuldnerin ein, weil diese die sich aus der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 (Fluggastrechte-VO) ergebenden Fluggastrechte nicht gewahrt und die nach der Fluggastrechte-VO erforderlichen Maßnahmen unterlassen habe. In diesem Zeitpunkt lagen nach Angaben des Luftfahrt-Bundesamtes weitere 403 Anzeigen von Fluggästen vor, auf die hin noch keine Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen die Schuldnerin eröffnet worden waren.
In Bezug auf diese Anzeigen vereinbarte die Schuldnerin mit dem Luftfahrt-Bundesamt am 19.6.2017, dass insgesamt 295 Bußgeldbescheide im Gesamtumfang von rd. 2,3 Mio. € zzgl. Gebühren und Auslagen ergehen würden, mit denen die Altfälle abgegolten sein sollten. Die Schuldnerin erklärte sich bereit, diese Bußgeldbescheide zu akzeptieren und keine Einsprüche einzulegen. In der Folge ergingen die angekündigten Bußgeldbescheide, auf welche die Schuldnerin zzgl. Gebühren und Auslagen Zahlungen i.H.v. insgesamt rd. 2,4 Mio. € leistete.
Der Kläger focht den Abschluss der Vereinbarung vom 19.6.2017 sowie die daraufhin von der Schuldnerin geleisteten Zahlungen als unentgeltliche Leistungen an. Hilfsweise focht er die im letzten Monat vor Insolvenzantragstellung fast ausschließlich vor Fälligkeit geleisteten Zahlungen unter dem Gesichtspunkt der inkongruenten Deckung an. Er nimmt die Beklagte auf Rückgewähr sämtlicher Zahlungen nebst Zinsen in Anspruch.
Das LG gab der Klage statt; das OLG wies sie ab. Auf die Revision des Klägers hob der BGH das Urteil des OLG insoweit auf, als das OLG die Klage hinsichtlich der Zahlungen über rd. 430.000 € nebst Zinsen abgewiesen hat, und wies die Berufung der Beklagten zurück, soweit die Beklagte zur Zahlung von rd. 430.000 € nebst Zinsen an den Kläger verurteilt worden ist. Im Übrigen wurde der Kläger des Rechtsmittels der Revision für verlustig erklärt.
Die Gründe:
Entgegen der Auffassung des OLG ist die Masse aufgrund der verfrühten Zahlungen nicht nur um entgangene Nutzungsvorteile geschmälert, weshalb die geleisteten Zahlungen, welche die Beklagte gem. § 138 Abs. 2 und 3 ZPO nicht bestritten hat, als solche zurückzugewähren sind.
Allerdings hat der Senat es als Frage der Zurechenbarkeit angesehen, ob die wenige Tage nach Zahlung eingetretene Fälligkeit einer Anfechtung in voller Höhe des Zahlungsbetrags entgegensteht. Nach überwiegender Auffassung im Schrifttum unterliegt die verfrühte Leistung grundsätzlich im Ganzen, auch als Geldzahlung, nicht etwa nur hinsichtlich des Zwischenzinses, der Anfechtung. Nach der Gegenauffassung soll nur Nutzungsersatz ("Zwischenzins") für die Zeitspanne zu zahlen sein, in der der Anfechtungsgegner keinen Anspruch auf die Leistung hatte.
Die überwiegende Auffassung im Schrifttum trifft zu. Hierfür sprechen Wortlaut, Regelungszusammenhang sowie Sinn und Zweck der Anfechtungsvorschriften. Rechtsfolge des § 131 Abs. 1 InsO ist die Anfechtbarkeit der Rechtshandlung. Eine Unterscheidung nach der Art der Inkongruenz sieht das Gesetz nicht vor. Was durch die anfechtbare Handlung aus dem Vermögen des Schuldners weggegeben ist, muss gem. § 143 Abs. 1 InsO zur Insolvenzmasse zurückgewährt werden.
Die Inkongruenzanfechtung einer verfrühten, nicht zu der Zeit zu beanspruchenden Leistung zielt darauf ab, einem so bevorzugten Gläubiger den Vorteil wieder zu nehmen und dadurch die Gläubigergleichbehandlung herbeizuführen. Der Vorteil für den Gläubiger aber besteht in der ganzen Leistung. Der Abzug des Zwischenzinses behebt für sich allein die Inkongruenz der verfrühten Zahlung nicht. Auch kann der Umstand, dass die vorzeitig getilgte Schuld doch noch vor Eröffnung durch Vereinbarung fällig geworden sein mag, die Anfechtbarkeit nicht rückwirkend zu beseitigen.
Mehr zum Thema:
Kommentierung | InsO
§ 131 Inkongruente Deckung
Thole in Kayser/Thole, Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 11. Aufl. 2023
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§ 143 Rechtsfolgen
Thole/Kleindiek in Kayser/Thole, Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 11. Aufl. 2023
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BGH online
Der Kläger ist Verwalter in dem auf Eigenantrag vom 15.8.2017 am 1.11.2017 eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der A. Co. KG (Schuldnerin). Das Luftfahrt-Bundesamt der Beklagten leitete bis zum 2.6.2017 insgesamt 314 Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen die Schuldnerin ein, weil diese die sich aus der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 (Fluggastrechte-VO) ergebenden Fluggastrechte nicht gewahrt und die nach der Fluggastrechte-VO erforderlichen Maßnahmen unterlassen habe. In diesem Zeitpunkt lagen nach Angaben des Luftfahrt-Bundesamtes weitere 403 Anzeigen von Fluggästen vor, auf die hin noch keine Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen die Schuldnerin eröffnet worden waren.
In Bezug auf diese Anzeigen vereinbarte die Schuldnerin mit dem Luftfahrt-Bundesamt am 19.6.2017, dass insgesamt 295 Bußgeldbescheide im Gesamtumfang von rd. 2,3 Mio. € zzgl. Gebühren und Auslagen ergehen würden, mit denen die Altfälle abgegolten sein sollten. Die Schuldnerin erklärte sich bereit, diese Bußgeldbescheide zu akzeptieren und keine Einsprüche einzulegen. In der Folge ergingen die angekündigten Bußgeldbescheide, auf welche die Schuldnerin zzgl. Gebühren und Auslagen Zahlungen i.H.v. insgesamt rd. 2,4 Mio. € leistete.
Der Kläger focht den Abschluss der Vereinbarung vom 19.6.2017 sowie die daraufhin von der Schuldnerin geleisteten Zahlungen als unentgeltliche Leistungen an. Hilfsweise focht er die im letzten Monat vor Insolvenzantragstellung fast ausschließlich vor Fälligkeit geleisteten Zahlungen unter dem Gesichtspunkt der inkongruenten Deckung an. Er nimmt die Beklagte auf Rückgewähr sämtlicher Zahlungen nebst Zinsen in Anspruch.
Das LG gab der Klage statt; das OLG wies sie ab. Auf die Revision des Klägers hob der BGH das Urteil des OLG insoweit auf, als das OLG die Klage hinsichtlich der Zahlungen über rd. 430.000 € nebst Zinsen abgewiesen hat, und wies die Berufung der Beklagten zurück, soweit die Beklagte zur Zahlung von rd. 430.000 € nebst Zinsen an den Kläger verurteilt worden ist. Im Übrigen wurde der Kläger des Rechtsmittels der Revision für verlustig erklärt.
Die Gründe:
Entgegen der Auffassung des OLG ist die Masse aufgrund der verfrühten Zahlungen nicht nur um entgangene Nutzungsvorteile geschmälert, weshalb die geleisteten Zahlungen, welche die Beklagte gem. § 138 Abs. 2 und 3 ZPO nicht bestritten hat, als solche zurückzugewähren sind.
Allerdings hat der Senat es als Frage der Zurechenbarkeit angesehen, ob die wenige Tage nach Zahlung eingetretene Fälligkeit einer Anfechtung in voller Höhe des Zahlungsbetrags entgegensteht. Nach überwiegender Auffassung im Schrifttum unterliegt die verfrühte Leistung grundsätzlich im Ganzen, auch als Geldzahlung, nicht etwa nur hinsichtlich des Zwischenzinses, der Anfechtung. Nach der Gegenauffassung soll nur Nutzungsersatz ("Zwischenzins") für die Zeitspanne zu zahlen sein, in der der Anfechtungsgegner keinen Anspruch auf die Leistung hatte.
Die überwiegende Auffassung im Schrifttum trifft zu. Hierfür sprechen Wortlaut, Regelungszusammenhang sowie Sinn und Zweck der Anfechtungsvorschriften. Rechtsfolge des § 131 Abs. 1 InsO ist die Anfechtbarkeit der Rechtshandlung. Eine Unterscheidung nach der Art der Inkongruenz sieht das Gesetz nicht vor. Was durch die anfechtbare Handlung aus dem Vermögen des Schuldners weggegeben ist, muss gem. § 143 Abs. 1 InsO zur Insolvenzmasse zurückgewährt werden.
Die Inkongruenzanfechtung einer verfrühten, nicht zu der Zeit zu beanspruchenden Leistung zielt darauf ab, einem so bevorzugten Gläubiger den Vorteil wieder zu nehmen und dadurch die Gläubigergleichbehandlung herbeizuführen. Der Vorteil für den Gläubiger aber besteht in der ganzen Leistung. Der Abzug des Zwischenzinses behebt für sich allein die Inkongruenz der verfrühten Zahlung nicht. Auch kann der Umstand, dass die vorzeitig getilgte Schuld doch noch vor Eröffnung durch Vereinbarung fällig geworden sein mag, die Anfechtbarkeit nicht rückwirkend zu beseitigen.
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§ 131 Inkongruente Deckung
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Thole/Kleindiek in Kayser/Thole, Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 11. Aufl. 2023
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