Insolvenz: Rückschluss von medialer Berichterstattung auf Kenntnis nur bei äußerst umfassender und hervorgehobener Berichterstattung
BGH v. 8.2.2024 - IX ZR 107/22
Der Sachverhalt:
Der Kläger ist Sachwalter in dem auf Antrag vom 18.7.2018 am 1.10.2018 in Eigenverwaltung eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der K. GmbH (Schuldnerin). Er nimmt die beklagte Bundesrepublik Deutschland unter dem Gesichtspunkt der Deckungsanfechtung auf Rückgewähr von Einfuhrumsatzsteuerzahlungen i.H.v. rd. 230.000 € und Zollzahlungen i.H.v. rd. 24.000 € in Anspruch, welche die Schuldnerin an das Hauptzollamt H. geleistet hat. Die Zahlungen erfolgten nach dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens im Zeitraum vom 1.8. bis zum 28.9.2018 auf Waren, die zum Teil vor und zum Teil nach dem Eröffnungsantrag in der Zeit zwischen dem 5.7. und dem 19.9.2018 in den europäischen Binnenmarkt eingeführt wurden. Die Parteien streiten u.a. darüber, ob man auf Seiten des Hauptzollamts den Insolvenzantrag schon vor dem 9.8.2018 kannte.
Das LG hat sich davon überzeugt, dass die zuständigen Bediensteten des Hauptzollamts ab dem 19.7.2018 Kenntnis von dem Insolvenzantrag der Schuldnerin hatten. Es verurteilte die Beklagte zur Rückgewähr von Einfuhrumsatzsteuer- und Zollzahlungen auf Waren, die ab dem 19.7.2018 eingeführt wurden. Im Übrigen nahm es aufgrund der aus § 76 AO folgenden Sachhaftung anfechtungsfeste Absonderungsrechte der Beklagten an den eingeführten Waren an und wies die Klage mangels Gläubigerbenachteiligung ab. Gegen das Urteil legten die Beklagte Berufung und der Kläger Anschlussberufung ein. Die Anschlussberufung des Klägers hatte keinen Erfolg. Auf die Berufung der Beklagten wies das OLG die Klage auf Rückgewähr der Einfuhrumsatzsteuerzahlungen ab und die Berufung im Übrigen zurück. Mit seiner Revision will der Kläger die vollständige Verurteilung der Beklagten - auch im Sinne seiner Anschlussberufung - erreichen. Die Beklagte legte Anschlussrevision ein und begehrt die Befreiung von ihrer in der Berufungsinstanz verbliebenen Beschwer.
Revision und Anschlussrevision hatten vor dem BGH teilweise Erfolg.
Die Gründe:
Die Revision ist begründet, soweit das OLG die Klage auf Rückgewähr von Einfuhrumsatzsteuerzahlungen i.H.v. rd. 195.000 € auf Waren zurückgewiesen hat, die ab dem 19.7.2018 in den europäischen Binnenmarkt eingeführt wurden. Das auf § 143 InsO gestützte Verlangen des Klägers auf Rückgewähr der Einfuhrumsatzsteuerzahlungen stellt keine unzulässige Rechtsausübung dar. Dies gilt selbst dann, wenn man mit dem OLG davon ausgeht, dass die Rückgewähr anfechtbar erlangter Einfuhrumsatzsteuerzahlungen eine Pflicht zur Berichtigung des Vorsteuerabzugs nach § 17 Abs. 3 UStG nach sich zieht und dies zur Begründung einer Masseverbindlichkeit führt. Dass insbesondere der dolo-agit-Einwand nicht durchgreift, hat der Senat mit Urteil vom heutigen Tage (IX ZR 2/22, ZIP 2024, 457) entschieden und ausführlich begründet. Unbegründet ist die Revision, soweit sie die mit der Anschlussberufung des Klägers erstrebte Verurteilung der Beklagten zur Rückgewähr der Einfuhrumsatzsteuer- und Zollzahlungen auf Waren weiterverfolgt, die vor dem 19.7.2018 in den europäischen Binnenmarkt eingeführt wurden.
Die Zahlungen können nur dann eine Gläubigerbenachteiligung bewirkt haben, wenn die Entstehung der Sachhaftung ihrerseits anfechtbar war. Die hier infrage stehende Sachhaftung ist vor dem 19.7.2018 entstanden. Die Revision nimmt hin, dass diese Sachhaftung nicht nach § 130 InsO anfechtbar ist. Die Anfechtbarkeit folgt auch nicht aus § 131 InsO. Voraussetzung für eine Anfechtung nach § 131 Abs. 1 InsO ist eine inkongruente Deckung, die dann vorliegt, wenn einem Insolvenzgläubiger eine Sicherung oder Befriedigung gewährt oder ermöglicht wird, die er nicht, nicht in der Art oder nicht zu der Zeit zu beanspruchen hatte. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn der Gläubiger eine Sicherheit erhält, auf die er weder durch den Vertrag noch kraft Gesetzes einen Anspruch hatte. Die Sachhaftung gem. § 76 Abs. 1 AO begründet eine Sicherheit i.S.d. § 131 InsO. Die Sachhaftung ist allerdings nicht inkongruent.
Die zulässige Anschlussrevision ist begründet, soweit das OLG von einer Anfechtbarkeit der Zollzahlungen auf Waren ausgegangen ist, die ab dem 19.7. bis zum 9.8.2018 in den europäischen Binnenmarkt eingeführt wurden. Sie ist zudem begründet, soweit das OLG die Anfechtung hinsichtlich der Zollzahlung über 710,53 € für am 18.7.2018 eingeführte Waren hat durchgreifen lassen. Legt man die vom OLG getroffenen Feststellungen zugrunde, unterliegt die Sachhaftung einer Anfechtung nach § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO erst im Blick auf Waren, die ab dem 9. August 2018 in den europäischen Binnenmarkt eingeführt worden sind. Ab diesem Zeitpunkt kannte man auf Seiten des Hauptzollamts aufgrund der entsprechenden Mitteilung der Schuldnerin unstreitig den Insolvenzantrag und waren demnach die Voraussetzungen des Anfechtungstatbestands erfüllt. Die Annahme einer früheren Kenntnis vom Insolvenzantrag wird von den Feststellungen des OLG nicht getragen.
Rechtsfehlerhaft ist die Annahme, die Leitung des Hauptzollamts H. habe ab dem 19.7.2018 Kenntnis von dem am 18.7.2018 gestellten Insolvenzantrag gehabt. Richtig ist, dass der Leiter einer Behörde neben dem zuständigen Sachbearbeiter ein für die Wissenszurechnung geeigneter Kenntnisträger ist. Ob der Behördenleiter an der angefochtenen Rechtshandlung beteiligt war oder nicht, ist ohne Bedeutung. Aufgrund der vom OLG getroffenen Feststellungen kann allerdings nicht davon ausgegangen werden, die Leitung des Hauptzollamts H. habe ab dem 19.7.2018 aufgrund der entsprechenden Medienberichterstattung Kenntnis von dem am 18.7.2018 gestellten Insolvenzantrag gehabt. Der Rückschluss von einer medialen Berichterstattung auf die Kenntnis von einem bestimmten Gegenstand der Berichterstattung ist nur tragfähig, wenn die Berichterstattung derart umfassend und hervorgehoben erfolgt ist, dass sie dem Kenntnisträger nicht verborgen geblieben sein kann. Dies ist hier nicht der Fall.
Die Annahme einer vor dem 9.8.2018 erlangten Kenntnis von dem Insolvenzantrag lässt sich auch nicht auf die Verletzung einer Beobachtungs- und Erkundigungsobliegenheit stützen. Weder liegt eine Verletzung der Obliegenheit vor noch würde bei (unterstellter) Verletzung auf eine positive Kenntnis der Beklagten vom Insolvenzantrag der Schuldnerin geschlossen werden können. Eine Verletzung der Beobachtungs- und Erkundigungsobliegenheit im Blick auf ein erkanntermaßen krisenbehaftetes Unternehmen führt nicht zur Annahme einer tatsächlich nicht vorhandenen Kenntnis (hier: von einem Insolvenzantrag).
Mehr zum Thema:
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§ 129 Grundsatz
Thole in Kayser/Thole, Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 11. Aufl. 2023
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§ 130 Kongruente Deckung
Thole in Kayser/Thole, Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 11. Aufl. 2023
Kommentierung | InsO
§ 131 Inkongruente Deckung
Thole in Kayser/Thole, Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 11. Aufl. 2023
Rechtsprechung:
Insolvenzanfechtung von Einfuhrumsatzsteuer nicht treuwidrig
BGH vom 08.02.2024 - IX ZR 2/22
ZIP 2024, 457
ZIP0064626
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Der Kläger ist Sachwalter in dem auf Antrag vom 18.7.2018 am 1.10.2018 in Eigenverwaltung eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der K. GmbH (Schuldnerin). Er nimmt die beklagte Bundesrepublik Deutschland unter dem Gesichtspunkt der Deckungsanfechtung auf Rückgewähr von Einfuhrumsatzsteuerzahlungen i.H.v. rd. 230.000 € und Zollzahlungen i.H.v. rd. 24.000 € in Anspruch, welche die Schuldnerin an das Hauptzollamt H. geleistet hat. Die Zahlungen erfolgten nach dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens im Zeitraum vom 1.8. bis zum 28.9.2018 auf Waren, die zum Teil vor und zum Teil nach dem Eröffnungsantrag in der Zeit zwischen dem 5.7. und dem 19.9.2018 in den europäischen Binnenmarkt eingeführt wurden. Die Parteien streiten u.a. darüber, ob man auf Seiten des Hauptzollamts den Insolvenzantrag schon vor dem 9.8.2018 kannte.
Das LG hat sich davon überzeugt, dass die zuständigen Bediensteten des Hauptzollamts ab dem 19.7.2018 Kenntnis von dem Insolvenzantrag der Schuldnerin hatten. Es verurteilte die Beklagte zur Rückgewähr von Einfuhrumsatzsteuer- und Zollzahlungen auf Waren, die ab dem 19.7.2018 eingeführt wurden. Im Übrigen nahm es aufgrund der aus § 76 AO folgenden Sachhaftung anfechtungsfeste Absonderungsrechte der Beklagten an den eingeführten Waren an und wies die Klage mangels Gläubigerbenachteiligung ab. Gegen das Urteil legten die Beklagte Berufung und der Kläger Anschlussberufung ein. Die Anschlussberufung des Klägers hatte keinen Erfolg. Auf die Berufung der Beklagten wies das OLG die Klage auf Rückgewähr der Einfuhrumsatzsteuerzahlungen ab und die Berufung im Übrigen zurück. Mit seiner Revision will der Kläger die vollständige Verurteilung der Beklagten - auch im Sinne seiner Anschlussberufung - erreichen. Die Beklagte legte Anschlussrevision ein und begehrt die Befreiung von ihrer in der Berufungsinstanz verbliebenen Beschwer.
Revision und Anschlussrevision hatten vor dem BGH teilweise Erfolg.
Die Gründe:
Die Revision ist begründet, soweit das OLG die Klage auf Rückgewähr von Einfuhrumsatzsteuerzahlungen i.H.v. rd. 195.000 € auf Waren zurückgewiesen hat, die ab dem 19.7.2018 in den europäischen Binnenmarkt eingeführt wurden. Das auf § 143 InsO gestützte Verlangen des Klägers auf Rückgewähr der Einfuhrumsatzsteuerzahlungen stellt keine unzulässige Rechtsausübung dar. Dies gilt selbst dann, wenn man mit dem OLG davon ausgeht, dass die Rückgewähr anfechtbar erlangter Einfuhrumsatzsteuerzahlungen eine Pflicht zur Berichtigung des Vorsteuerabzugs nach § 17 Abs. 3 UStG nach sich zieht und dies zur Begründung einer Masseverbindlichkeit führt. Dass insbesondere der dolo-agit-Einwand nicht durchgreift, hat der Senat mit Urteil vom heutigen Tage (IX ZR 2/22, ZIP 2024, 457) entschieden und ausführlich begründet. Unbegründet ist die Revision, soweit sie die mit der Anschlussberufung des Klägers erstrebte Verurteilung der Beklagten zur Rückgewähr der Einfuhrumsatzsteuer- und Zollzahlungen auf Waren weiterverfolgt, die vor dem 19.7.2018 in den europäischen Binnenmarkt eingeführt wurden.
Die Zahlungen können nur dann eine Gläubigerbenachteiligung bewirkt haben, wenn die Entstehung der Sachhaftung ihrerseits anfechtbar war. Die hier infrage stehende Sachhaftung ist vor dem 19.7.2018 entstanden. Die Revision nimmt hin, dass diese Sachhaftung nicht nach § 130 InsO anfechtbar ist. Die Anfechtbarkeit folgt auch nicht aus § 131 InsO. Voraussetzung für eine Anfechtung nach § 131 Abs. 1 InsO ist eine inkongruente Deckung, die dann vorliegt, wenn einem Insolvenzgläubiger eine Sicherung oder Befriedigung gewährt oder ermöglicht wird, die er nicht, nicht in der Art oder nicht zu der Zeit zu beanspruchen hatte. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn der Gläubiger eine Sicherheit erhält, auf die er weder durch den Vertrag noch kraft Gesetzes einen Anspruch hatte. Die Sachhaftung gem. § 76 Abs. 1 AO begründet eine Sicherheit i.S.d. § 131 InsO. Die Sachhaftung ist allerdings nicht inkongruent.
Die zulässige Anschlussrevision ist begründet, soweit das OLG von einer Anfechtbarkeit der Zollzahlungen auf Waren ausgegangen ist, die ab dem 19.7. bis zum 9.8.2018 in den europäischen Binnenmarkt eingeführt wurden. Sie ist zudem begründet, soweit das OLG die Anfechtung hinsichtlich der Zollzahlung über 710,53 € für am 18.7.2018 eingeführte Waren hat durchgreifen lassen. Legt man die vom OLG getroffenen Feststellungen zugrunde, unterliegt die Sachhaftung einer Anfechtung nach § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO erst im Blick auf Waren, die ab dem 9. August 2018 in den europäischen Binnenmarkt eingeführt worden sind. Ab diesem Zeitpunkt kannte man auf Seiten des Hauptzollamts aufgrund der entsprechenden Mitteilung der Schuldnerin unstreitig den Insolvenzantrag und waren demnach die Voraussetzungen des Anfechtungstatbestands erfüllt. Die Annahme einer früheren Kenntnis vom Insolvenzantrag wird von den Feststellungen des OLG nicht getragen.
Rechtsfehlerhaft ist die Annahme, die Leitung des Hauptzollamts H. habe ab dem 19.7.2018 Kenntnis von dem am 18.7.2018 gestellten Insolvenzantrag gehabt. Richtig ist, dass der Leiter einer Behörde neben dem zuständigen Sachbearbeiter ein für die Wissenszurechnung geeigneter Kenntnisträger ist. Ob der Behördenleiter an der angefochtenen Rechtshandlung beteiligt war oder nicht, ist ohne Bedeutung. Aufgrund der vom OLG getroffenen Feststellungen kann allerdings nicht davon ausgegangen werden, die Leitung des Hauptzollamts H. habe ab dem 19.7.2018 aufgrund der entsprechenden Medienberichterstattung Kenntnis von dem am 18.7.2018 gestellten Insolvenzantrag gehabt. Der Rückschluss von einer medialen Berichterstattung auf die Kenntnis von einem bestimmten Gegenstand der Berichterstattung ist nur tragfähig, wenn die Berichterstattung derart umfassend und hervorgehoben erfolgt ist, dass sie dem Kenntnisträger nicht verborgen geblieben sein kann. Dies ist hier nicht der Fall.
Die Annahme einer vor dem 9.8.2018 erlangten Kenntnis von dem Insolvenzantrag lässt sich auch nicht auf die Verletzung einer Beobachtungs- und Erkundigungsobliegenheit stützen. Weder liegt eine Verletzung der Obliegenheit vor noch würde bei (unterstellter) Verletzung auf eine positive Kenntnis der Beklagten vom Insolvenzantrag der Schuldnerin geschlossen werden können. Eine Verletzung der Beobachtungs- und Erkundigungsobliegenheit im Blick auf ein erkanntermaßen krisenbehaftetes Unternehmen führt nicht zur Annahme einer tatsächlich nicht vorhandenen Kenntnis (hier: von einem Insolvenzantrag).
Kommentierung | InsO
§ 129 Grundsatz
Thole in Kayser/Thole, Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 11. Aufl. 2023
Kommentierung | InsO
§ 130 Kongruente Deckung
Thole in Kayser/Thole, Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 11. Aufl. 2023
Kommentierung | InsO
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Thole in Kayser/Thole, Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 11. Aufl. 2023
Rechtsprechung:
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ZIP0064626
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