Internetzugangsdienste: Nulltarifpakete verstoßen gegen Netzneutralität
EuGH v. 15.9.2020 - C-807/18 u.a.
Der Sachverhalt:
Die in Ungarn niedergelassene Gesellschaft Telenor stellt u.a. Internetzugangsdienste bereit. Zu den Dienstleistungen, die sie ihren Kunden anbietet, gehören zwei Pakete für einen bevorzugten Zugang (sog. Nulltarif), die die Besonderheit aufweisen, dass der durch bestimmte Dienste und Anwendungen generierte Datenverkehr nicht auf den Verbrauch des von den Kunden gebuchten Datenvolumens angerechnet wird. Außerdem können die Kunden diese speziellen Anwendungen und Dienste nach der Ausschöpfung ihres Datenvolumens weiterhin uneingeschränkt nutzen, während der Datenverkehr bei den übrigen verfügbaren Anwendungen und Diensten dann blockiert oder verlangsamt wird.
Nachdem die ungarische Behörde für Medien und Kommunikation zwei Verfahren eingeleitet hatte, um zu prüfen, ob diese beiden Pakete mit der Verordnung 2015/2120 über Maßnahmen zum Zugang zum offenen Internet vereinbar sind, erließ sie zwei Bescheide, in denen sie die Auffassung vertrat, dass die Pakete gegen die in Art. 3 Abs. 3 der Verordnung enthaltene Pflicht zur gleichen und nichtdiskriminierenden Behandlung des Verkehrs verstießen und dass Telenor dies abstellen müsse.
Das mit zwei Klagen von Telenor befasste ungarische Gericht setzte die Verfahren aus und legte dem EuGH Fragen zur Vorabentscheidung vor. Diese betreffen die Auslegung und Anwendung der Abs. 1 und 2 von Art. 3 der Verordnung 2015/2120 (die den Endnutzern von Internetzugangsdiensten eine Reihe von Rechten zuerkennen und den Anbietern solcher Dienste den Abschluss von Vereinbarungen sowie Geschäftspraktiken verbieten, die die Ausübung dieser Rechte einschränken) und ihres Art. 3 Abs. 3 (der eine allgemeine Pflicht zur gleichen und nichtdiskriminierenden Behandlung des Datenverkehrs aufstellt).
Die Gründe:
Der EuGH (Große Kammer) hat vorliegend erstmals die Verordnung 2015/2120 ausgelegt, die den tragenden Grundsatz der Offenheit des Internets (auch als Netzneutralität bezeichnet) festschreibt.
Hinsichtlich der Auslegung von Art. 3 Abs. 2 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 der Verordnung 2015/2120 ist festzustellen, dass nach der letztgenannten Bestimmung die Rechte, die sie den Endnutzern von Internetzugangsdiensten zuerkennt, "über ihren Internetzugangsdienst" ausgeübt werden sollen, während die erstgenannte Bestimmung verlangt, dass die Ausübung dieser Rechte durch einen solchen Dienst nicht eingeschränkt wird. Überdies ergibt sich aus Art. 3 Abs. 2 der Verordnung, dass die Dienste eines Internetzugangsanbieters von den nationalen Regulierungsbehörden unter der Kontrolle der zuständigen nationalen Gerichte anhand dieses Erfordernisses zu bewerten sind, unter Berücksichtigung sowohl der Vereinbarungen zwischen dem Anbieter und den Endnutzern als auch der Geschäftsgepflogenheiten des Anbieters.
Der Abschluss von Vereinbarungen, mit denen die Kunden Pakete abonnieren, die aus einer Kombination eines Nulltarifs mit Maßnahmen zur Blockierung oder Verlangsamung des Datenverkehrs bei der Nutzung der übrigen, nicht dem Nulltarif unterliegenden Anwendungen und Dienste bestehen, ist geeignet, die Ausübung der Rechte der Endnutzer i.S.v. Art. 3 Abs. 2 der Verordnung auf einem erheblichen Teil des Marktes einzuschränken. Derartige Pakete können die Nutzung der bevorzugt behandelten Anwendungen und Dienste erhöhen und zugleich die Nutzung der übrigen verfügbaren Anwendungen und Dienste in Anbetracht der Maßnahmen, mit denen der Anbieter von Internetzugangsdiensten ihre Nutzung technisch erschwert oder sogar unmöglich macht, verringern. Zudem kann, je größer die Zahl der Kunden ist, die solche Vereinbarungen abschließen, die kumulierte Auswirkung dieser Vereinbarungen angesichts ihrer Tragweite umso mehr zu einer erheblichen Einschränkung der Ausübung der Rechte der Endnutzer führen oder sogar den Kern dieser Rechte untergraben.
Zur Auslegung von Art. 3 Abs. 3 der Verordnung 2015/2120 gilt, dass es zur Feststellung einer Unvereinbarkeit mit dieser Bestimmung keiner Bewertung der Auswirkungen von Maßnahmen, mit denen der Verkehr blockiert oder verlangsamt wird, auf die Ausübung der Rechte der Endnutzer bedarf. Ein solches Erfordernis ist in dieser Bestimmung für die Beurteilung der Einhaltung der darin normierten allgemeinen Pflicht zur gleichen und nichtdiskriminierenden Behandlung des Verkehrs nicht vorgesehen. Maßnahmen, mit denen der Verkehr blockiert oder verlangsamt wird, sind als solche als mit der genannten Bestimmung unvereinbar anzusehen, da sie nicht auf objektiv unterschiedlichen Anforderungen an die technische Qualität der Dienste bei speziellen Verkehrskategorien, sondern auf kommerziellen Erwägungen beruhen. Folglich verstoßen Pakete wie die der Kontrolle des vorlegenden Gerichts unterworfenen im Allgemeinen sowohl gegen Abs. 2 von Art. 3 der Verordnung 2015/2120 als auch gegen dessen Abs. 3; bei ihrer Prüfung können die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte der letztgenannten Bestimmung Vorrang einräumen.
EuGH PM Nr. 106 vom 15.9.2020
Die in Ungarn niedergelassene Gesellschaft Telenor stellt u.a. Internetzugangsdienste bereit. Zu den Dienstleistungen, die sie ihren Kunden anbietet, gehören zwei Pakete für einen bevorzugten Zugang (sog. Nulltarif), die die Besonderheit aufweisen, dass der durch bestimmte Dienste und Anwendungen generierte Datenverkehr nicht auf den Verbrauch des von den Kunden gebuchten Datenvolumens angerechnet wird. Außerdem können die Kunden diese speziellen Anwendungen und Dienste nach der Ausschöpfung ihres Datenvolumens weiterhin uneingeschränkt nutzen, während der Datenverkehr bei den übrigen verfügbaren Anwendungen und Diensten dann blockiert oder verlangsamt wird.
Nachdem die ungarische Behörde für Medien und Kommunikation zwei Verfahren eingeleitet hatte, um zu prüfen, ob diese beiden Pakete mit der Verordnung 2015/2120 über Maßnahmen zum Zugang zum offenen Internet vereinbar sind, erließ sie zwei Bescheide, in denen sie die Auffassung vertrat, dass die Pakete gegen die in Art. 3 Abs. 3 der Verordnung enthaltene Pflicht zur gleichen und nichtdiskriminierenden Behandlung des Verkehrs verstießen und dass Telenor dies abstellen müsse.
Das mit zwei Klagen von Telenor befasste ungarische Gericht setzte die Verfahren aus und legte dem EuGH Fragen zur Vorabentscheidung vor. Diese betreffen die Auslegung und Anwendung der Abs. 1 und 2 von Art. 3 der Verordnung 2015/2120 (die den Endnutzern von Internetzugangsdiensten eine Reihe von Rechten zuerkennen und den Anbietern solcher Dienste den Abschluss von Vereinbarungen sowie Geschäftspraktiken verbieten, die die Ausübung dieser Rechte einschränken) und ihres Art. 3 Abs. 3 (der eine allgemeine Pflicht zur gleichen und nichtdiskriminierenden Behandlung des Datenverkehrs aufstellt).
Die Gründe:
Der EuGH (Große Kammer) hat vorliegend erstmals die Verordnung 2015/2120 ausgelegt, die den tragenden Grundsatz der Offenheit des Internets (auch als Netzneutralität bezeichnet) festschreibt.
Hinsichtlich der Auslegung von Art. 3 Abs. 2 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 der Verordnung 2015/2120 ist festzustellen, dass nach der letztgenannten Bestimmung die Rechte, die sie den Endnutzern von Internetzugangsdiensten zuerkennt, "über ihren Internetzugangsdienst" ausgeübt werden sollen, während die erstgenannte Bestimmung verlangt, dass die Ausübung dieser Rechte durch einen solchen Dienst nicht eingeschränkt wird. Überdies ergibt sich aus Art. 3 Abs. 2 der Verordnung, dass die Dienste eines Internetzugangsanbieters von den nationalen Regulierungsbehörden unter der Kontrolle der zuständigen nationalen Gerichte anhand dieses Erfordernisses zu bewerten sind, unter Berücksichtigung sowohl der Vereinbarungen zwischen dem Anbieter und den Endnutzern als auch der Geschäftsgepflogenheiten des Anbieters.
Der Abschluss von Vereinbarungen, mit denen die Kunden Pakete abonnieren, die aus einer Kombination eines Nulltarifs mit Maßnahmen zur Blockierung oder Verlangsamung des Datenverkehrs bei der Nutzung der übrigen, nicht dem Nulltarif unterliegenden Anwendungen und Dienste bestehen, ist geeignet, die Ausübung der Rechte der Endnutzer i.S.v. Art. 3 Abs. 2 der Verordnung auf einem erheblichen Teil des Marktes einzuschränken. Derartige Pakete können die Nutzung der bevorzugt behandelten Anwendungen und Dienste erhöhen und zugleich die Nutzung der übrigen verfügbaren Anwendungen und Dienste in Anbetracht der Maßnahmen, mit denen der Anbieter von Internetzugangsdiensten ihre Nutzung technisch erschwert oder sogar unmöglich macht, verringern. Zudem kann, je größer die Zahl der Kunden ist, die solche Vereinbarungen abschließen, die kumulierte Auswirkung dieser Vereinbarungen angesichts ihrer Tragweite umso mehr zu einer erheblichen Einschränkung der Ausübung der Rechte der Endnutzer führen oder sogar den Kern dieser Rechte untergraben.
Zur Auslegung von Art. 3 Abs. 3 der Verordnung 2015/2120 gilt, dass es zur Feststellung einer Unvereinbarkeit mit dieser Bestimmung keiner Bewertung der Auswirkungen von Maßnahmen, mit denen der Verkehr blockiert oder verlangsamt wird, auf die Ausübung der Rechte der Endnutzer bedarf. Ein solches Erfordernis ist in dieser Bestimmung für die Beurteilung der Einhaltung der darin normierten allgemeinen Pflicht zur gleichen und nichtdiskriminierenden Behandlung des Verkehrs nicht vorgesehen. Maßnahmen, mit denen der Verkehr blockiert oder verlangsamt wird, sind als solche als mit der genannten Bestimmung unvereinbar anzusehen, da sie nicht auf objektiv unterschiedlichen Anforderungen an die technische Qualität der Dienste bei speziellen Verkehrskategorien, sondern auf kommerziellen Erwägungen beruhen. Folglich verstoßen Pakete wie die der Kontrolle des vorlegenden Gerichts unterworfenen im Allgemeinen sowohl gegen Abs. 2 von Art. 3 der Verordnung 2015/2120 als auch gegen dessen Abs. 3; bei ihrer Prüfung können die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte der letztgenannten Bestimmung Vorrang einräumen.