Keine Verhängung finanzieller Sanktionen wegen des VW-Gesetzes
EuGH 22.10.2013, C-95/12Der deutsche Automobilhersteller Volkswagen war 1960 mit dem sog. "VW-Gesetz", in eine AG umgewandelt worden. Beim Erlass dieses Gesetzes waren die Bundesrepublik Deutschland und das Land Niedersachsen mit Beteiligungen von jeweils 20 % die beiden Hauptgesellschafter. Während der Bund nicht mehr an Volkswagen beteiligt ist, hält das Land Niedersachsen weiterhin etwa 20 %.
Ursprünglich waren nach dem VW-Gesetz der Bund und das Land Niedersachsen, solange ihnen Aktien der Gesellschaft gehörten, zur Entsendung von je zwei Aufsichtsratsmitgliedern berechtigt. Außerdem wurden durch dieses Gesetz die Stimmrechte jedes Aktionärs auf die Anzahl von Stimmen beschränkt, die einer Beteiligung von 20 % entsprechen. Ferner sah das Gesetz eine herabgesetzte Sperrminorität vor, die es einer Minderheit von nur 20 % des Grundkapitals ermöglichte, wichtige Entscheidungen der Gesellschaft zu blockieren, während hierzu nach dem deutschen Aktiengesetz 25 % erforderlich sind.
Die EU-Kommission hatte 2005 beim EuGH eine Vertragsverletzungsklage gegen Deutschland erhoben. Sie war der Ansicht, dass die drei Vorschriften des VW-Gesetzes u.a. nicht mit dem unionsrechtlich garantierten freien Kapitalverkehr vereinbar seien. Der EuGH gab der Klage im Jahr 2007 statt. Daraufhin hob Deutschland die beiden erstgenannten Vorschriften auf, behielt aber jene über die herabgesetzte Sperrminorität bei.
Die EU-Kommission vertrat die Auffassung, dass dem Urteil von 2007 zufolge jede dieser drei Vorschriften eine selbständige Verletzung des freien Kapitalverkehrs darstelle und deshalb auch diejenige über die herabgesetzte Sperrminorität hätte aufgehoben werden müssen. Sie rief daher erneut den EuGH an und beantragte die Verhängung finanzieller Sanktionen gegen Deutschland wegen nicht vollständiger Durchführung des Urteils von 2007. So beantragte sie die Verurteilung zur Zahlung eines Zwangsgelds vom mind. 68 Mio. €.
Der EuGH wies die Klage ab.
Die Gründe:
Sowohl aus der Entscheidungsformel als auch aus den Entscheidungsgründen des Urteils von 2007 ging hervor, dass der EuGH keine selbständige Vertragsverletzung durch die Vorschrift über die herabgesetzte Sperrminorität festgestellt hatte, sondern nur i.V.m. der Vorschrift über das Höchststimmrecht.
Infolgedessen war Deutschland, indem es die Vorschrift des VW-Gesetzes über die Entsendung von Aufsichtsratsmitgliedern durch den Bund und das Land Niedersachsen und diejenige über das Höchststimmrecht aufgehoben und somit die Verbindung zwischen letztgenannter Vorschrift und derjenigen über die herabgesetzte Sperrminorität beseitigt hatte, seinen Verpflichtungen aus dem Urteil von 2007 fristgemäß nachgekommen.
Die Rüge der EU-Kommission, Deutschland hätte auch die Satzung von Volkswagen, die nach wie vor eine im Wesentlichen der des VW-Gesetzes entsprechende Bestimmung über die herabgesetzte Sperrminorität enthalte, ändern müssen, war als unzulässig zurückzuweisen; Gegenstand des Urteils von 2007 war ausschließlich die Vereinbarkeit bestimmter Vorschriften des VW-Gesetzes mit dem Unionsrecht gewesen, nicht die Satzung.
Hintergrund:
Eine Vertragsverletzungsklage, die sich gegen einen Mitgliedstaat richtet, der gegen seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht verstoßen hat, kann von der EU-Kommission oder einem anderen Mitgliedstaat erhoben werden. Stellt der EuGH eine Vertragsverletzung fest, hat der betreffende Mitgliedstaat dem Urteil unverzüglich nachzukommen.
Ist die EU-Kommission der Auffassung, dass der Mitgliedstaat dem Urteil nicht nachgekommen ist, kann sie erneut klagen und finanzielle Sanktionen beantragen. Hat ein Mitgliedstaat der Kommission die Maßnahmen zur Umsetzung einer Richtlinie nicht mitgeteilt, kann der EuGH auf Vorschlag der Kommission jedoch bereits mit dem ersten Urteil Sanktionen verhängen.
Linkhinweis:
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