Keine Verpflichtung Einzelner durch Leitlinien der Kommission zur Marktanalyse und Ermittlung beträchtlicher Marktmacht
EuGH 12.5.2011, C-410/09Nach der Beitrittsakte von 2003 sind die vor dem Beitritt der neuen Mitgliedstaaten zur Union erlassenen und vom Rat, der Kommission oder der Europäischen Zentralbank in den Sprachen dieser Staaten abgefassten Rechtsakte der Organe und der Europäischen Zentralbank vom Tag des Beitritts an unter den gleichen Bedingungen wie die Wortlaute in den elf Sprachen der seinerzeitigen Mitgliedstaaten verbindlich. Sie werden im Amtsblatt der EU veröffentlicht, sofern die Wortlaute in den elf Sprachen auf diese Weise veröffentlicht worden sind.
Gem. der Richtlinie über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste (Rahmenrichtlinie) veröffentlicht die Kommission Leitlinien zur Marktanalyse und zur Bewertung beträchtlicher Marktmacht, die von den nationalen Regulierungsbehörden weitestgehend berücksichtigt werden, wenn sie die relevanten Märkte entsprechend den nationalen Gegebenheiten - insbes. der innerhalb ihres Hoheitsgebiets relevanten geografischen Märkte - im Einklang mit den Grundsätzen des Wettbewerbsrechts festlegen.
Der Sachverhalt:
Die Polska Telefonia Cyfrowa (PTC) ist einer der wichtigsten Telekommunikationsbetreiber in Polen. Im Jahr 2006 gelangte der Präsident des Amtes für elektronische Kommunikation in Polen zu der Auffassung, dass PTC über eine beträchtliche Marktmacht auf dem Markt für Anrufzustellungsdienste verfüge, und erlegte diesem Unternehmen mit einer Entscheidung bestimmte Verpflichtungen auf. In der Annahme, dass die Leitlinien von 2002, auf die diese Entscheidung gestützt sei, ihr nicht entgegengehalten werden könnten, da sie im Amtsblatt der EU nicht in polnischer Sprache veröffentlicht gewesen seien, erhob PTC Klage gegen die Entscheidung der nationalen Regulierungsbehörde.
Der Sąd Najwyższy (Oberster Gerichtshof, Polen), der mit einem Rechtsmittel befasst ist, möchte vom EuGH wissen, ob es Art. 58 der Beitrittsakte von 2003 der polnischen Regulierungsbehörde verwehrt, sich in einer Entscheidung, mit der sie einem Betreiber von Diensten der elektronischen Kommunikation bestimmte Verpflichtungen auferlegt, auf die Leitlinien von 2002 zu beziehen, wenn diese Leitlinien im Amtsblatt der EU nicht in der Sprache dieses Mitgliedstaats veröffentlicht worden sind, obwohl diese Sprache eine Amtssprache der Union ist.
Die Gründe:
Nach einem grundlegenden Prinzip der Unionsrechtsordnung darf ein hoheitlicher Rechtsakt den Bürgern nicht entgegengehalten werden, bevor sie die Möglichkeit haben, von diesem Rechtsakt Kenntnis zu nehmen. Die Beitrittsakte von 2003 gestattet es nicht, dass Verpflichtungen in einer Unionsregelung, die nicht im Amtsblatt der EU in der Sprache eines neuen Mitgliedstaats veröffentlicht worden ist, obwohl diese Sprache eine Amtssprache der Union ist, Einzelnen in diesem Staat auferlegt werden, auch wenn sie auf anderem Wege Kenntnis von dieser Regelung hätten nehmen können.
In diesem Zusammenhang war zu prüfen, ob die Leitlinien von 2002 ihrem Inhalt nach den Einzelnen Verpflichtungen auferlegen. Dabei ist festzustellen, dass in diesen Leitlinien die Grundsätze beschrieben werden, die die nationalen Regulierungsbehörden bei der Analyse der Märkte und der Wirksamkeit des Wettbewerbs nach dem gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikation zugrunde legen sollen.
Daraus folgt der Schluss, dass die Leitlinien von 2002 keine Verpflichtung enthalten, die unmittelbar oder mittelbar Einzelnen auferlegt werden könnte. Insoweit schließt es die fehlende Veröffentlichung dieser Leitlinien im Amtsblatt der EU in polnischer Sprache nicht aus, dass die polnische Regulierungsbehörde in einer an einen Einzelnen gerichteten Entscheidung darauf Bezug nimmt.
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