Kronzeugenregelungen der Union und der Mitgliedstaaten stehen eigenständig nebeneinander
EuGH 20.1.2016, C-428/14Das Unionsrecht - hier die Verordnung (EG) Nr. 1/2003 - soll durch einen Mechanismus der Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden eine kohärente Anwendung der Wettbewerbsregeln in den Mitgliedstaaten gewährleisten. Dieser Mechanismus wird als "Europäisches Wettbewerbsnetz" (ECN) bezeichnet.
Der Sachverhalt:
Das ECN erließ im Jahr 2006 ein Kronzeugenregelungsmodell auf europäischer Ebene. Im Jahr 2007 erließ die italienische Wettbewerbs- und Kartellbehörde (AGCM) auf nationaler Ebene ein ähnliches Modell, in dem ein "Kurzantrag" auf Kronzeugenbehandlung vorgesehen war. Diese Regelungen sollen insbesondere die Aufdeckung von rechtswidrigen Verhaltensweisen fördern, indem den Beteiligten an Kartellen ein Anreiz gegeben wird, diese anzuzeigen. Mithilfe der Kronzeugenregelungen können die Wettbewerbsbehörden das Unternehmen, das seine Beteiligung an einem Kartell anzeigt, von der Zahlung der Geldbuße befreien. Hierzu muss es als erstes Informationen übermitteln, die dazu dienen, einen Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln festzustellen.
2007 und 2008 stellten DHL Express (Italy) sowie DHL Global Forwarding (Italy), Agility Logistics und Schenker Italiana bei der Kommission und der AGCM gesondert Anträge auf Kronzeugenbehandlung. Sie behaupteten, dass auf dem Sektor der internationalen Frachtverkehrsdienste gegen das Wettbewerbsrecht der Union verstoßen worden sei. Im Juni 2011 stellte die AGCM fest, dass mehrere Unternehmen, darunter DHL, Schenker und Agility, an einem Kartell auf dem Sektor der internationalen Straßenfrachtverkehrsdienste von und nach Italien beteiligt waren. Die AGCM bestätigte in dieser Entscheidung, dass Schenker mit ihrem Antrag vom 12.12.2007 das erste Unternehmen gewesen sei, das in Italien bei ihr einen Antrag auf Erlass der Geldbuße hinsichtlich des Straßenfrachtverkehrs gestellt habe. In Anwendung der nationalen Kronzeugenregelung wurde daher gegen Schenker keine Geldbuße verhängt. DHL und Agility wurden hingegen jeweils zur Zahlung einer Geldbuße (die jedoch in beiden Fällen herabgesetzt wurde) verurteilt.
DHL erhob bei den italienischen Gerichten Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidung der AGCM. Das Unternehmen bringt insbesondere vor, dass die AGCM zu Unrecht davon ausgegangen sei, dass DHL nicht als erstes die Anwendung der nationalen Kronzeugenregelung beantragt habe und dass ihr daher die Geldbuße nicht erlassen werden könne. Die AGCM hätte den am 5.6.2007 von DHL bei der Kommission gestellten Antrag auf Erlass der Geldbuße berücksichtigen müssen, da er vor dem Antrag von Schenker gestellt worden sei.
Der mit der Sache befasste Staatsrat in Italien ersucht den EuGH im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens um Auslegung des Unionsrechts hinsichtlich des Verhältnisses zwischen den verschiedenen Verfahren, die innerhalb des ECN nebeneinander existieren.
Die Gründe:
Die im Rahmen des ECN beschlossenen Instrumente - einschließlich des Kronzeugenregelungsmodells - sind für die nationalen Wettbewerbsbehörden nicht verbindlich, und zwar unabhängig von der gerichtlichen oder administrativen Natur dieser Behörden. Darüber hinaus besteht zwischen dem bei der Kommission eingereichten Antrag auf Erlass der Geldbuße und dem für dasselbe Kartell bei einer nationalen Wettbewerbsbehörde eingereichten Kurzantrag kein rechtlicher Zusammenhang, so dass diese Behörde weder verpflichtet ist, den Kurzantrag im Licht des Antrags auf Erlass der Geldbuße zu beurteilen, noch gehalten ist, die Kommission zu kontaktieren, um Informationen über den Gegenstand und die Ergebnisse des auf europäischer Ebene eingerichteten Kronzeugenverfahrens zu erhalten.
Das Unionsrecht steht im Übrigen einer nationalen Kronzeugenregelung nicht entgegen, nach der eine nationale Wettbewerbsbehörde einen Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße eines Unternehmens entgegennehmen kann, wenn es parallel dazu bei der Kommission keinen Antrag auf vollständigen Erlass, sondern lediglich auf Ermäßigung der Geldbuße gestellt hat. Demzufolge kann das nationale Recht bestimmen, dass ein Unternehmen, das nicht als erstes einen Antrag auf Erlass der Geldbuße bei der Kommission stellt und folglich von der Kommission lediglich eine Ermäßigung (und keinen vollständigen Erlass) der Geldbuße erhalten kann, bei den nationalen Wettbewerbsbehörden einen Kurzantrag auf (vollständigen) Erlass der Geldbuße stellen kann. Diese Schlussfolgerung ergibt sich aus der fehlenden Verbindlichkeit der im Rahmen des ECN beschlossenen Instrumente (darunter das Kronzeugenregelungsmodell) für die nationalen Wettbewerbsbehörden.
Linkhinweis:
Für den auf den Webseiten des EuGH veröffentlichten Volltext der Entscheidung klicken Sie bitte hier.