01.09.2015

Löschung von Volkszählungsdaten vorläufig gestoppt

Das BverfG hat die Löschung der im Rahmen des Zensus 2011 erhobenen Daten vorläufig gestoppt; die Außervollzugsetzung von § 19 des ZensG 2011 gilt bis zur Entscheidung in der Hauptsache, längstens für sechs Monate. Der vertiefte Eingriff in das Recht der betroffenen Bürger auf informationelle Selbstbestimmung wiegt im Verhältnis weniger schwer als die Vorteile, die die einstweilige Anordnung für die Rechtsschutzmöglichkeiten der antragstellenden Gemeinden mit sich bringt.

BVerfG 26.8.2015, 2 BvF 1/15
Der Sachverhalt:
Antragsteller ist der Senat von Berlin. Im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle begehrt er, § 7 Abs. 1 und Abs. 2 des Zensusgesetzes 2011 (ZensG 2011), § 2 Abs. 2 und Abs. 3 der Stichprobenverordnung und § 19 ZensG 2011 für nichtig zu erklären. Darüber hinaus beantragt er, § 19 ZensG 2011 im Rahmen einer einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache außer Kraft zu setzen.

Nach dem ZensG 2011 führten die statistischen Ämter des Bundes und der Länder eine Bevölkerungs-, Gebäude- und Wohnungszählung zum 9.5.2011 durch, um die Einwohnerzahlen von Bund, Ländern und Gemeinden verbindlich festzustellen. Das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg stellte für das Land Berlin eine Einwohnerzahl von 3.292.365 Personen fest; dies sind rd. 180.000 Personen weniger als nach den fortgeschriebenen Zahlen auf Grundlage der Volkszählungen von 1981 (Ost) und 1987 (West). Das Land Berlin legte Widerspruch ein, über den noch nicht entschieden ist. Insgesamt haben mehr als 1.000 Gemeinden gegen die ihre Einwohnerzahlen feststellenden Bescheide Rechtsbehelfe eingelegt.

Im Unterschied zu früheren Volkszählungen sieht das ZensG 2011 vor, dass die Ermittlung der Einwohnerzahlen nicht mehr auf einer Befragung aller Einwohnerinnen und Einwohner, sondern im Wesentlichen auf einer Auswertung der Melderegister und anderer Verwaltungsregister beruhen sollte. Befragungen in Haushalten waren lediglich ergänzend durchzuführen; dies wird in § 7 des ZensG 2011 und der Stichprobenverordnung näher geregelt. Nach § 19 ZensG 2011 sind die erhobenen Daten spätestens vier Jahre nach dem Berichtszeitpunkt zu löschen. Diese Löschung hat bereits begonnen.

Das BVerfG gab dem Antrag des Berliner Senats statt und stoppte die Löschung der im Rahmen des Zensus 2011 erhobenen Daten vorläufig. Die Außervollzugsetzung von § 19 des ZensG 2011 gilt bis zur Entscheidung in der Hauptsache, längstens für sechs Monate.

Die Gründe:
Zur Abwehr möglicher schwerer Nachteile für die betroffenen Gemeinden ist der Erlass der einstweiligen Anordnung dringend geboten. Die Nachteile, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, das Normenkontrollverfahren aber später Erfolg hätte, überwiegen deutlich gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die angegriffene Regelung außer Vollzug gesetzt würde, sie sich aber im Hauptsacheverfahren als verfassungsgemäß erwiese.

Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich § 19 ZensG 2011 aber später als verfassungswidrig, so wären die im Rahmen des Zensus 2011 erhobenen Daten, sofern nicht schon geschehen, grundsätzlich unverzüglich zu löschen. Die im Gesetz vorgesehene Frist für die maximale Aufbewahrung dieses Datenmaterials ist am 9.5.2015 abgelaufen. Soweit die Löschung auch Datenmaterial zu Gemeinden betrifft, deren Rechtsschutzverfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen sind, wäre eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit der festgestellten Einwohnerzahl erheblich erschwert, wenn nicht gar unmöglich. Methodik und Qualität der Durchführung der Zensuserhebung könnten einer rechtlichen Würdigung jedenfalls nicht mehr anhand der umstrittenen Daten und Unterlagen unterzogen werden.

Erginge die einstweilige Anordnung und erwiese sich § 19 des ZensG 2011 im Hauptsacheverfahren als verfassungsgemäß, so könnte den klagenden Gemeinden in den noch laufenden Rechtsschutzverfahren eine gerichtliche Überprüfung der festgestellten Einwohnerzahlen ermöglicht werden. Dies wäre zwar mit einem Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der betroffenen Bürger verbunden, der nachträglich nicht mehr rückgängig gemacht werden könnte. Dieser Grundrechtseingriff wöge jedoch nicht besonders schwer, da die längstens für einen Zeitraum von vier Jahren vorgesehene Speicherung der erhobenen Daten lediglich für einen begrenzten Zeitraum fortdauern würde.

Die Auswirkungen einer Rechtsschutzvereitelung wären für die betroffenen Gemeinden hingegen von erheblichem Gewicht. Die von den Statistikämtern festgestellten Einwohnerzahlen des Zensus 2011 sind für den Zeitraum bis zur nächsten Erhebung im Jahre 2021 Grundlage der jeweiligen Zuweisungen der Länder und des Länderfinanzausgleichs nach Art. 107 GG. Die in Rede stehenden Zahlungsbeträge sind beträchtlich. Allein für das antragstellende Land Berlin bedeutet die Korrektur seiner Einwohnerzahl um ca. 180.000 nach unten nach seinen Angaben eine Verringerung von Zuteilungen aus dem Länderfinanzausgleich um ca. 470 Millionen Euro pro Jahr. Darüber hinaus knüpfen etwa die Rechtsvorschriften über die Einteilung der Bundestagswahlkreise oder die Anzahl der Stimmen im Bundesrat an die Einwohnerzahlen an.

Auch unter Berücksichtigung der gem. § 20 Abs. 2 S. 2 GG gebotenen Zurückhaltung ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung, die § 19 des ZensG 2011 vorläufig außer Vollzug setzt, zur Abwehr möglicher schwerer Nachteile für die betroffenen Gemeinden dringend geboten. Das vom Gesetzgeber verfolgte Konzept zum Ausgleich zwischen der Notwendigkeit der Datenerhebung und -speicherung und dem Schutz der personenbezogenen Daten der Auskunftspersonen wird durch die Verschiebung der Löschung um einen begrenzten Zeitraum nicht in Frage gestellt.

Linkhinweis:

  • Der Volltext ist auf der Homepage des BVerfG veröffentlicht.
  • Um direkt zum Volltext zu kommen, klicken Sie bitte hier.
BVerfG PM Nr. 63 vom 1.9.2015
Zurück