Meinungsfreiheit - Russland: Öffentlicher Dreh eines politischen Satirefilms
EGMR v. 10.9.2024 - 21286/15 u.a.
Der Sachverhalt:
Das vorliegende Urteil betrifft zwei vom EGMR miteinander verbundene Sachverhalte betreffend Russland: Zum einen war Gegenstand ein öffentlicher Hungerstreik der Beschwerdeführerin aus Protest gegen die Misshandlung eines Gefangenen in einer Strafkolonie (Rs. 21286/15). Zum anderen und hier besprochen ging es um die Verhaftung und Verurteilung der anderen vier Beschwerdeführer, nachdem diese mit zwei weiteren Beteiligten in einem öffentlichen Park in Moskau einen satirischen Film über den russischen Präsidenten Putin gedreht hatten (Rs. 13140/16, 13162/16, 20802/16 und 24703/16). Nach eigenen Aussagen hatten sie sich ausschließlich zu dem Filmdreh an einem Abend im Juli 2015 in einem abgelegenen Teil des Parks versammelt, dies, um keinen Anstoß zu erregen. Einer der Schauspieler trat als satirische Darstellung von Putin auf, während andere Teilnehmer ihre Liebe zu ihm bekundeten, indem sie Plakate mit absurden Slogans trugen und sich gegenseitig mit geschmolzener Schokolade übergossen. Als sich ihnen Polizisten näherten, zerstreuten sich die Teilnehmer, wurden aber einzeln festgenommen, in einen Polizeiwagen gezwungen und mehrere Stunden auf einer Wache festgehalten. Die russische Regierung trug vor, dass die Polizei von Passanten darüber informiert worden sei, dass eine Gruppe von Personen in der Nähe der Aussichtsplattform im Park Parolen rufe und Plakate mit obszönen Worten hochhalte. Dabei habe es sich um eine "Massenveranstaltung" gehandelt, die eine Versammlung dargestellt habe, ohne dass die örtlichen Behörden den Ort und die Zeit für die Durchführung dazu zuvor genehmigt hätten. Im Ordnungswidrigkeitsverfahren wurden die Beschwerdeführer wegen Durchführung einer "öffentlichen Veranstaltung" zu einer Geldbuße von jeweils 10.000 Rubeln (damals etwa 150 Euro) verurteilt. Rechtsmittel blieben ohne Erfolg.
Die Gründe:
Der EGMR verwies einleitend auf seine ständige Rechtsprechung, wonach Art. 10 EMRK nicht nur den Inhalt der geäußerten Gedanken und Informationen - auch wenn diese Anstoß erregen, schockieren oder verstören - schützt, sondern auch die Form, in der sie vermittelt werden. Dies umfasse über das gesprochene oder geschriebene Wort hinaus auch nonverbale Ausdrucks- und Verhaltensweisen. Vorliegend habe es sich unabhängig von der Einstufung durch die Behörden um eine Meinungsäußerung gehandelt, insbesondere da nur sechs Personen beteiligt waren und die Versammlung nur kurze Zeit dauerte. Die Wahl eines abgelegenen Ortes im Park zeige, dass die Beschwerdeführer nicht die Absicht hatten, Dritte einzubeziehen, und zwar unabhängig von ihren möglichen späteren Plänen, durch den Film eine politische Botschaft zu vermitteln. Der Sachverhalt falle somit in den Anwendungsbereich von Art. 10 EMRK, der Satire als eine Form des künstlerischen Ausdrucks und des sozialen Kommentars schütze, die durch ihre inhärenten Merkmale der Übertreibung und Verzerrung der Realität naturgemäß darauf abziele zu provozieren und zu agitieren.
Der Gerichtshof kam zu dem Ergebnis, dass der beschwerdegegenständliche Eingriff nicht gesetzlich vorgesehen im Sinne des Art. 10 Abs. 2 EMRK gewesen sei: Demnach müsse eine Maßnahme nicht nur eine Rechtsgrundlage im innerstaatlichen Recht haben; diese solle für die betroffene Person auch zugänglich und in ihren Auswirkungen vorhersehbar sein, um einen angemessenen Schutz gegen willkürliche Beeinträchtigungen durch Behörden zu gewährleisten.
Hauptstreitpunkt sei vorliegend, ob das russische Gesetz über öffentliche Veranstaltungen auf den Filmdreh anwendbar war. Wenn dies nicht der Fall wäre, hätten die Beschwerdeführer nicht wegen Verstoßes gegen die Vorschriften für die Durchführung einer "öffentlichen Veranstaltung" sanktioniert werden dürfen, so der EGMR weiter.
Der Begriff "Versammlung" im Sinne des russischen Gesetzes über öffentliche Veranstaltungen beziehe sich auf eine Massenversammlung von Personen zum Zwecke der öffentlichen Meinungsäußerung zu Fragen von öffentlichem Interesse. Die Anwendung des Konzepts der Massenversammlung auf eine Gruppe von sechs Personen in einem abgelegenen Teil eines öffentlichen Parks, die sich mit dem Dreh eines Filmes befassen, verkenne den spezifischen Kontext und die Art einer solchen Tätigkeit. Diese umfasse keine an die allgemeine Öffentlichkeit gerichtete öffentliche Meinungsäußerung in der gleichen Weise wie eine Kundgebung oder ein Protest. Hauptzweck des Filmemachens sei die Erstellung von Inhalten, die politisch ausgerichtet sein könnten oder auch nicht. Im Gegensatz zu Versammlungen, bei denen die Teilnehmer zusammenkämen, um ihre Botschaft direkt vor Ort an ein Publikum zu kommunizieren, sei das Filmemachen eine vorbereitende Tätigkeit, bei der die Ideen erst später durch das Ansehen des fertigen Films an die Öffentlichkeit kommuniziert würden. Zwar könne ein Verhalten wie das Filmemachen im öffentlichen Raum vernünftigerweise inhaltsneutralen Vorschriften, etwa Regeln oder Bedingungen für die kommerzielle Nutzung öffentlicher Parks, unterworfen werden. Diese unterschieden sich aber von der Regulierung von Versammlungen, und im vorliegenden Fall sei von den innerstaatlichen Behörden kein Verstoß gegen solche Vorschriften geltend gemacht worden.
Zudem habe der Filmdreh weder zu einer Störung der öffentlichen Ordnung geführt, noch habe er eine solche Störung überhaupt begründen können. Sicherheitsmaßnahmen oder -vorbereitungen, die eine vorherige Anmeldung verlangen würden, seien demnach nicht erforderlich gewesen.
Die weit gefasste Definition einer "Versammlung" im russischen Gesetz über öffentliche Veranstaltungen ermögliche eine weitreichende Auslegung durch die innerstaatlichen Behörden. Tatsächlich scheine es, dass jeder, der an einer öffentlichen Meinungskundgebung beteiligt ist, möglicherweise sanktioniert werden könnte, unabhängig von der Art des Verhaltens, der Anzahl der beteiligten Personen, dem Zeitpunkt oder dem Ort.
Der EGMR bejahte mit Blick auf den Sachverhalt der vier Beschwerdeführer einstimmig eine Verletzung von Art. 10 sowie von Art. 5 Abs. 1 (Recht auf Freiheit und Sicherheit) und von Art. 6 Abs. 1 (Recht auf ein faires Verfahren) EMRK.
Sebastian Ramelli, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)
Das vorliegende Urteil betrifft zwei vom EGMR miteinander verbundene Sachverhalte betreffend Russland: Zum einen war Gegenstand ein öffentlicher Hungerstreik der Beschwerdeführerin aus Protest gegen die Misshandlung eines Gefangenen in einer Strafkolonie (Rs. 21286/15). Zum anderen und hier besprochen ging es um die Verhaftung und Verurteilung der anderen vier Beschwerdeführer, nachdem diese mit zwei weiteren Beteiligten in einem öffentlichen Park in Moskau einen satirischen Film über den russischen Präsidenten Putin gedreht hatten (Rs. 13140/16, 13162/16, 20802/16 und 24703/16). Nach eigenen Aussagen hatten sie sich ausschließlich zu dem Filmdreh an einem Abend im Juli 2015 in einem abgelegenen Teil des Parks versammelt, dies, um keinen Anstoß zu erregen. Einer der Schauspieler trat als satirische Darstellung von Putin auf, während andere Teilnehmer ihre Liebe zu ihm bekundeten, indem sie Plakate mit absurden Slogans trugen und sich gegenseitig mit geschmolzener Schokolade übergossen. Als sich ihnen Polizisten näherten, zerstreuten sich die Teilnehmer, wurden aber einzeln festgenommen, in einen Polizeiwagen gezwungen und mehrere Stunden auf einer Wache festgehalten. Die russische Regierung trug vor, dass die Polizei von Passanten darüber informiert worden sei, dass eine Gruppe von Personen in der Nähe der Aussichtsplattform im Park Parolen rufe und Plakate mit obszönen Worten hochhalte. Dabei habe es sich um eine "Massenveranstaltung" gehandelt, die eine Versammlung dargestellt habe, ohne dass die örtlichen Behörden den Ort und die Zeit für die Durchführung dazu zuvor genehmigt hätten. Im Ordnungswidrigkeitsverfahren wurden die Beschwerdeführer wegen Durchführung einer "öffentlichen Veranstaltung" zu einer Geldbuße von jeweils 10.000 Rubeln (damals etwa 150 Euro) verurteilt. Rechtsmittel blieben ohne Erfolg.
Die Gründe:
Der EGMR verwies einleitend auf seine ständige Rechtsprechung, wonach Art. 10 EMRK nicht nur den Inhalt der geäußerten Gedanken und Informationen - auch wenn diese Anstoß erregen, schockieren oder verstören - schützt, sondern auch die Form, in der sie vermittelt werden. Dies umfasse über das gesprochene oder geschriebene Wort hinaus auch nonverbale Ausdrucks- und Verhaltensweisen. Vorliegend habe es sich unabhängig von der Einstufung durch die Behörden um eine Meinungsäußerung gehandelt, insbesondere da nur sechs Personen beteiligt waren und die Versammlung nur kurze Zeit dauerte. Die Wahl eines abgelegenen Ortes im Park zeige, dass die Beschwerdeführer nicht die Absicht hatten, Dritte einzubeziehen, und zwar unabhängig von ihren möglichen späteren Plänen, durch den Film eine politische Botschaft zu vermitteln. Der Sachverhalt falle somit in den Anwendungsbereich von Art. 10 EMRK, der Satire als eine Form des künstlerischen Ausdrucks und des sozialen Kommentars schütze, die durch ihre inhärenten Merkmale der Übertreibung und Verzerrung der Realität naturgemäß darauf abziele zu provozieren und zu agitieren.
Der Gerichtshof kam zu dem Ergebnis, dass der beschwerdegegenständliche Eingriff nicht gesetzlich vorgesehen im Sinne des Art. 10 Abs. 2 EMRK gewesen sei: Demnach müsse eine Maßnahme nicht nur eine Rechtsgrundlage im innerstaatlichen Recht haben; diese solle für die betroffene Person auch zugänglich und in ihren Auswirkungen vorhersehbar sein, um einen angemessenen Schutz gegen willkürliche Beeinträchtigungen durch Behörden zu gewährleisten.
Hauptstreitpunkt sei vorliegend, ob das russische Gesetz über öffentliche Veranstaltungen auf den Filmdreh anwendbar war. Wenn dies nicht der Fall wäre, hätten die Beschwerdeführer nicht wegen Verstoßes gegen die Vorschriften für die Durchführung einer "öffentlichen Veranstaltung" sanktioniert werden dürfen, so der EGMR weiter.
Der Begriff "Versammlung" im Sinne des russischen Gesetzes über öffentliche Veranstaltungen beziehe sich auf eine Massenversammlung von Personen zum Zwecke der öffentlichen Meinungsäußerung zu Fragen von öffentlichem Interesse. Die Anwendung des Konzepts der Massenversammlung auf eine Gruppe von sechs Personen in einem abgelegenen Teil eines öffentlichen Parks, die sich mit dem Dreh eines Filmes befassen, verkenne den spezifischen Kontext und die Art einer solchen Tätigkeit. Diese umfasse keine an die allgemeine Öffentlichkeit gerichtete öffentliche Meinungsäußerung in der gleichen Weise wie eine Kundgebung oder ein Protest. Hauptzweck des Filmemachens sei die Erstellung von Inhalten, die politisch ausgerichtet sein könnten oder auch nicht. Im Gegensatz zu Versammlungen, bei denen die Teilnehmer zusammenkämen, um ihre Botschaft direkt vor Ort an ein Publikum zu kommunizieren, sei das Filmemachen eine vorbereitende Tätigkeit, bei der die Ideen erst später durch das Ansehen des fertigen Films an die Öffentlichkeit kommuniziert würden. Zwar könne ein Verhalten wie das Filmemachen im öffentlichen Raum vernünftigerweise inhaltsneutralen Vorschriften, etwa Regeln oder Bedingungen für die kommerzielle Nutzung öffentlicher Parks, unterworfen werden. Diese unterschieden sich aber von der Regulierung von Versammlungen, und im vorliegenden Fall sei von den innerstaatlichen Behörden kein Verstoß gegen solche Vorschriften geltend gemacht worden.
Zudem habe der Filmdreh weder zu einer Störung der öffentlichen Ordnung geführt, noch habe er eine solche Störung überhaupt begründen können. Sicherheitsmaßnahmen oder -vorbereitungen, die eine vorherige Anmeldung verlangen würden, seien demnach nicht erforderlich gewesen.
Die weit gefasste Definition einer "Versammlung" im russischen Gesetz über öffentliche Veranstaltungen ermögliche eine weitreichende Auslegung durch die innerstaatlichen Behörden. Tatsächlich scheine es, dass jeder, der an einer öffentlichen Meinungskundgebung beteiligt ist, möglicherweise sanktioniert werden könnte, unabhängig von der Art des Verhaltens, der Anzahl der beteiligten Personen, dem Zeitpunkt oder dem Ort.
Der EGMR bejahte mit Blick auf den Sachverhalt der vier Beschwerdeführer einstimmig eine Verletzung von Art. 10 sowie von Art. 5 Abs. 1 (Recht auf Freiheit und Sicherheit) und von Art. 6 Abs. 1 (Recht auf ein faires Verfahren) EMRK.