11.03.2020

Missbräuchlichkeit bestimmter Vertragsklauseln im Darlehensvertrag: Gericht muss ggf. weitere Klauseln prüfen

Ein Gericht, vor dem ein Verbraucher die Missbräuchlichkeit bestimmter Vertragsklauseln geltend macht, muss von sich aus weitere Klauseln des Vertrags prüfen, soweit sie mit dem Streitgegenstand des bei ihm anhängigen Rechtsstreits zusammenhängen. Es hat ggf. Untersuchungsmaßnahmen zu ergreifen, um sich die für diese Prüfung erforderlichen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen zu verschaffen.

EuGH v. 11.3.2020 - C-511/17
Der Sachverhalt:
Die Klägerin schloss im Dezember 2007 mit der beklagten UniCredit Bank Hungary, einer ungarischen Bank, einen auf eine Fremdwährung lautenden Hypothekendarlehensvertrag. Dieser Vertrag enthält bestimmte Klauseln, die der Beklagten das Recht einräumen, den Vertrag später zu ändern. In der Folge erhob die Klägerin vor den ungarischen Gerichten Klage, um diese Klauseln gem. der Richtlinie 93/13/EWG über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen rückwirkend für unwirksam erklären zu lassen. Nach der Richtlinie sind missbräuchliche Klauseln in Verträgen, die ein Verbraucher mit einem Gewerbetreibenden geschlossen hat, für den Verbraucher unverbindlich.

2014 erließ der ungarische Gesetzgeber Rechtsvorschriften über die Feststellung der Missbräuchlichkeit von Klauseln, die den Banken das Recht einräumen, Verbraucherdarlehensverträge einseitig zu ändern, sowie über die Konsequenzen, die aus der Missbräuchlichkeit dieser Klauseln zu ziehen sind. Die ungarischen Gerichte müssen daher nicht mehr über die Vereinbarkeit dieser Klauseln mit der Richtlinie entscheiden.

Das mit der Sache befasste Gericht in Ungarn fragt sich jedoch, ob es im Licht der EuGH-Rechtsprechung nicht von sich aus darüber befinden muss, ob bestimmte andere Klauseln des streitigen Darlehensvertrags, gegen die sich die Klage nicht richtet, mit der Richtlinie vereinbar sind. Diese anderen Klauseln betreffen im vorliegenden Fall die notarielle Beurkundung, die Kündigungsgründe und bestimmte vom Verbraucher zu tragende Kosten. Nach Ansicht des Gerichts ergibt sich aus der Rechtsprechung des EuGH, dass das nationale Gericht in Rechtsstreitigkeiten über Verbraucherverträge von Amts wegen, d.h. von sich aus die Missbräuchlichkeit der Klauseln in diesen Verträgen prüfen muss, wenn es über die dazu erforderlichen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen verfügt.

Das ungarische Gericht möchte daher vom EuGH wissen, ob es nach der Richtlinie von Amts wegen die Missbräuchlichkeit aller Klauseln des streitigen Darlehensvertrags prüfen muss, auch wenn zum einen der Verbraucher in seiner Klage ihre Vereinbarkeit mit der Richtlinie nicht in Frage gestellt hat und zum anderen ihre Prüfung nicht erforderlich ist, um über diese Klage zu entscheiden.

Die Gründe:
Das Gericht, bei dem ein Verbraucher die Missbräuchlichkeit bestimmter Klauseln in einem mit einem Gewerbetreibenden geschlossenen Vertrag geltend macht, ist nicht verpflichtet, von Amts wegen gesondert die etwaige Missbräuchlichkeit aller anderen Klauseln dieses Vertrags, die der Verbraucher nicht angefochten hat, zu prüfen.

Allerdings muss es eine solche Prüfung bzgl. derjenigen Klauseln (auch wenn sie vom Verbraucher nicht angefochten worden sind) durchführen, die mit dem Streitgegenstand, wie er von den Parteien abgegrenzt wurde, zusammenhängen, sobald es über die hierzu erforderlichen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen verfügt. Wenn die ihm vorliegende Akte ernsthafte Zweifel hinsichtlich der Missbräuchlichkeit solcher Klauseln aufkommen lässt, muss das Gericht die Akte ergänzen, indem es die Parteien um die hierzu erforderlichen Klarstellungen und Unterlagen ersucht. Hingegen hat das Gericht nach der Richtlinie nicht von Amts wegen die etwaige Missbräuchlichkeit anderer, nicht mit dem Streitgegenstand zusammenhängender Klauseln zu prüfen, da andernfalls die Grenzen des Streitgegenstands, wie er von den Parteien in ihren Anträgen bestimmt wurde, überschritten würden.

Im Übrigen steht es den Mitgliedstaaten weiterhin frei, in ihrem nationalen Recht ein höheres Schutzniveau für Verbraucher vorzusehen, indem sie eine weiter gehende Überprüfung von Amts wegen als diejenige vorsehen, die nach der Richtlinie durchzuführen ist. Vorliegend scheint das ungarische Gericht davon auszugehen, dass die streitgegenständlichen Klauseln nicht mit dem Gegenstand der von der Klägerin ursprünglich erhobenen Klage zusammenhängen. Mit der Klage wollte diese die Unwirksamkeit derjenigen Klauseln feststellen lassen, die ihrer Bank die spätere Änderung ihres Darlehensvertrags gestatten. Folglich scheint das ungarische Gericht nach der Richtlinie nicht verpflichtet zu sein, von Amts wegen die Missbräuchlichkeit ersterer Klauseln zu prüfen.

Generell muss das nationale Gericht, das um Prüfung der Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel ersucht wird, alle anderen Klauseln des betreffenden Vertrags berücksichtigen, wenn es für diese Prüfung erforderlich ist, die kumulative Wirkung dieser Klauseln zu beurteilen. Daraus folgt jedoch nicht, dass das nationale Gericht verpflichtet ist, bei der Beurteilung der Ungültigkeit der Klausel, gegen die sich die Klage des Verbrauchers richtet, von Amts wegen alle diese anderen Klauseln eigenständig auf ihre etwaige Missbräuchlichkeit zu prüfen.
EuGH PM Nr. 27 vom 11.3.2020
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