Richtlinie über Sanierung und Liquidation von Kreditinstituten steht Erlass von Maßnahmen durch Gesetz zur Sanierung von Kreditinstituten nicht entgegen
EuGH, C-85/12: Schlussanträge des Generalanwalts vom 30.5.2013Die Richtlinie über die Sanierung und Liquidation von Kreditinstituten sieht vor, dass die Sanierungsmaßnahmen und das Liquidationsverfahren im Fall der Insolvenz eines Kreditinstituts mit Niederlassungen in anderen Mitgliedstaaten in einem einheitlichen Insolvenzverfahren in dem Mitgliedstaat erfolgen, in dem das Kreditinstitut seinen satzungsmäßigen Sitz hat (Herkunftsmitgliedstaat). Deshalb unterliegen derartige Maßnahmen grundsätzlich einem einheitlichen Insolvenzrecht, und sie werden nach dem Recht des Herkunftsmitgliedstaats durchgeführt, wobei sie nach diesem Recht ohne sonstige weitere Formalitäten Auswirkungen auf die gesamte Union entfalten. Staaten wie Island, die dem Abkommen über den EWR beigetreten sind, sind in dieser Hinsicht den Mitgliedstaaten der EU gleichgestellt.
Der Sachverhalt:
Das isländische Parlament ergriff im Rahmen des Zusammenbruchs des Finanzsystems, zu dem es in Island im Zuge der im Jahr 2008 ausgelösten internationalen Finanzkrise kam, eine Reihe von Maßnahmen zur Sanierung mehrerer Kreditinstitute des Landes. Ein im November 2008 erlassenes Gesetz verbot die Erhebung gerichtlicher Klagen gegen Kreditinstitute, die einem Zahlungsmoratorium unterliegen. Dieses Gesetz galt auch rückwirkend für zuvor erlassene Sicherungsmaßnahmen.
Landsbanki Islands HF ist ein isländisches Kreditinstitut, dem im Dezember 2008 ein Zahlungsmoratorium gewährt wurde. Kurz zuvor, im November 2008, wurden gegen Landsbanki in Frankreich auf Antrag eines in diesem Mitgliedstaat ansässigen Gläubigers zwei Sicherungspfändungen durchgeführt. Landsbanki focht diese Pfändungen bei den französischen Gerichten unter Hinweis darauf an, dass die in Island getroffenen Sanierungsmaßnahmen gemäß der Richtlinie ihrem französischen Gläubiger unmittelbar entgegengehalten werden können.
In diesem Zusammenhang fragt die französische Cour de cassation, die in letzter Instanz über den Rechtsstreit zu entscheiden hat, den EuGH, ob die nach dem isländischen Recht vorgesehenen Sanierungsmaßnahmen, obwohl sie von einem Gesetzgeber erlassen wurden, von der Richtlinie erfasst werden, die die gegenseitige Anerkennung von Sanierungsmaßnahmen und Liquidationsverfahren vorsieht, die von Behörden oder Gerichten verfügt wurden.
Zu den Schlussanträgen des Generalanwalts:
Der Generalanwalt hat dem EuGH in seinen Schlussanträgen vorgeschlagen, festzustellen, dass durch ein Gesetz erlassene Maßnahmen wie die in dem fraglichen isländischen Gesetz vorgesehenen nicht allein deshalb vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen sind, weil sie unmittelbar vom nationalen Gesetzgeber erlassen wurden. Der Hinweis in der Richtlinie auf Behörden und Gerichte ist darauf zurückzuführen, dass im Allgemeinen diese Behörden und Gerichte für den Erlass von Sanierungsmaßnahmen zuständig sind, die nach der Richtlinie von den Mitgliedstaaten anerkannt werden sollen. Diese Maßnahmen müssen sich jedoch speziell auf Finanzinstitute beziehen, die durch ihre individuelle Situation gekennzeichnet sind, und sie müssen vor Gericht von den Betroffenen wirksam angefochten werden können. Es ist Sache der Cour de cassation, zu beurteilen, ob diese Voraussetzungen bei dem fraglichen isländischen Gesetz erfüllt sind.
Das fragliche isländische Gesetz bezieht sich auf klar abgegrenzte und leicht bestimmbare individuelle Adressaten, nämlich Finanzinstitute, die einem Zahlungsmoratorium unterworfen wurden. Als das isländische Gesetz erlassen wurde, war dies bei Landsbanki und vier weiteren Finanzinstituten der Fall. Die besondere Situation von Landsbanki konnte dem isländischen Gesetzgeber im Zusammenhang mit der in Island im Jahr 2008 ausgebrochenen Finanzkrise nicht unbekannt sein. Die fraglichen Maßnahmen wurden offenbar als Einzelmaßnahmen für begrenzte Zeit erlassen und sind insofern nicht von allgemeiner und dauerhafter Art.
Wenn Sanierungsmaßnahmen, die erforderlich sind, um der Situation eines Finanzinstituts zu begegnen, aufgrund des legislativen Rangs der Vorschriften, deren Anwendung sie betreffen, ebenfalls nur legislativer Art sein können, macht es keinen Sinn, von einem Parlament erlassene Maßnahmen vom Anwendungsbereich der Richtlinie lediglich deshalb auszuschließen, weil es sich nicht um eine Behörde oder ein Gericht handelt, oder anders gesagt, weil sie nicht von einer Stelle erlassen wurden, die sie nicht erlassen konnte. Jedenfalls muss die Cour de cassation feststellen, ob das in Rede stehende isländische Gesetz, abgesehen von seiner Form und seinem Urheber, in funktioneller Hinsicht wie eine behördliche oder gerichtliche Entscheidung i.S.d. Richtlinie aufzufassen ist, d.h. wie eine Regelung, die weder Anspruch auf Allgemeinheit noch auf wiederholte Anwendung hat, sondern für einen konkreten Einzelfall bestimmt ist.
Zum anderen gewährleistet die Richtlinie die Gleichbehandlung aller Gläubiger im Hinblick auf ihren Anspruch auf Zugang zu den Gerichten. Die Einstufung der mit dem isländischen Gesetz erlassenen Maßnahmen als Sanierungsmaßnahmen i.S.d. Richtlinie setzt daher voraus, dass die Rechtsform dieser Maßnahmen der Möglichkeit der von diesen Maßnahmen Betroffenen, diese Maßnahmen vor den isländischen Gerichten wirksam anzufechten, nicht entgegensteht, was von der Cour de cassation zu prüfen ist. Und schließlich steht die Richtlinie der Rückwirkung einer nationalen Bestimmung, die ab Inkrafttreten eines Moratoriums jedes Gerichtsverfahren gegenüber einem Finanzinstitut verbietet oder aussetzt, gegenüber Sicherungsmaßnahmen, die bereits zuvor in einem anderen Mitgliedstaat getroffen wurden, nicht entgegen.
Linkhinweis:
Für den auf den Webseiten des EuGH veröffentlichten Volltext der Schlussanträge des Generalanwalts klicken Sie bitte hier.