Schutzzertifikat für Aids-Präparat TRUVADA ist nichtig
BGH v. 22.9.2020 - X ZR 172/18
Der Sachverhalt:
Die Beklagte ist Inhaberin des europäischen Patents 915 894 (Grundpatents), das am 25.7.1997 unter Inanspruchnahme einer US-amerikanischen Priorität vom 26.7.1996 angemeldet worden war und Zwischenprodukte für Nukleotidanaloga betrifft. Am 21.2.2005 erlangte die Beklagte die arzneimittelrechtliche Zulassung für das Aids-Präparat "Truvada", das als Wirkstoffe die in Patentanspruch 25 aufgeführte Substanz Tenofovirdisoproxil sowie Emtricitabin enthält.
Aufgrund einer Anmeldung vom 5.7.2005 erhielt die Beklagte durch Beschluss des Bundespatentgerichts vom 12.5.2011 (15 W [pat] 24/07) das ergänzende Schutzzertifikat 12 2005 000 041 (Streitzertifikat) für Tenofovirdisoproxil und die Salze, insbesondere das Fumarat, Hydrate, Tautomere und Solvate davon in Kombination mit Emtricitabin. Die Laufzeit des Streitzertifikats endete am 24.2.2020.
Die Klägerinnen haben geltend gemacht, das Streitzertifikat sei nach Art. 15 Abs. 1 Buchst. a i.V.m. Art. 3 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 469/2009 ESZVO für nichtig zu erklären. Die Beklagte hat das Streitzertifikat verteidigt. Das Patentgericht hat das Streitzertifikat für nichtig erklärt. Der BGH hat die Entscheidung im Berufungsverfahren bestätigt.
Gründe:
Das Rechtsschutzinteresse der Klägerinnen ist durch das Erlöschen des Streitzertifikats nicht entfallen. Das nach Ablauf der Schutzdauer eines ergänzenden Schutzzertifikats erforderliche Rechtsschutzinteresse für eine Nichtigkeitsklage liegt vor, wenn nicht auszuschließen ist, dass der Kläger aufgrund von Handlungen eines mit ihm verbundenen Unternehmens wegen Verletzung des Zertifikats in Anspruch genommen wird.
Zu Recht hat das Patentgericht entschieden, dass das Streitzertifikat nach Art. 15 Abs. 1 Buchst. a und Art. 3 Buchst. a ESZVO für nichtig zu erklären ist, weil die Kombination der Wirkstoffe Tenofovirdisoproxil und Emtricitabin nicht im Sinne der zuletzt genannten Vorschrift durch das Grundpatent geschützt ist. Die Erteilung eines Zertifikats setzt insbesondere voraus, dass in dem Mitgliedstaat der EU, in dem die Anmeldung eingereicht wird, zum Zeitpunkt dieser Anmeldung für das in Rede stehende Erzeugnis eine gültige arzneimittelrechtliche Zulassung erteilt wurde (Art. 3 Buchst. b ESZVO) und dieses Erzeugnis durch ein in Kraft befindliches Grundpatent geschützt ist (Art. 3 Buchst. a ESZVO).
Im vorliegenden Fall ist zwar die erste Voraussetzung erfüllt, nicht aber die zweite. Denn nach der EuGH-Rechtsprechung steht Art. 3 Buchst. a ESZVO der Erteilung eines Zertifikats für eine Kombination von Wirkstoffen entgegen, wenn einer dieser Wirkstoffe in den Ansprüchen des Grundpatents nicht genannt ist. Dabei ist es nicht erforderlich, dass ein Wirkstoff ausdrücklich angeführt ist. Es genügt, dass er unter eine in den Ansprüchen des Grundpatents enthaltene strukturelle oder funktionelle Definition fällt.
In einer Entscheidung anlässlich des Verfahrens über das im Vereinigten Königreich erteilte Schutzzertifikat für dasselbe Erzeugnis hat der Gerichtshof diese Anforderung dahin konkretisiert, dass ein Zertifikat für ein Erzeugnis, das aus mehreren Wirkstoffen besteht, die eine kombinierte Wirkung haben, nur dann erteilt werden darf, wenn die Kombination der Wirkstoffe im Licht der Beschreibung und der Zeichnungen des Patents notwendigerweise von der durch das Patent geschützten Erfindung erfasst ist und jeder der Wirkstoffe im Licht aller durch das Patent offengelegten Angaben spezifisch identifizierbar ist.
Ein Erzeugnis, das aus den Wirkstoffen Tenofovirdisoproxil und Emtricitabin besteht, ist bei Anlegung dieser Maßstäbe nicht durch das Grundpatent geschützt. Die genannte Wirkstoffkombination ist nicht notwendigerweise von der durch das Patent geschützten Erfindung erfasst. Zudem ist nicht jeder der beiden Wirkstoffe im dargelegten Sinn spezifisch identifizierbar. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist ein Patentanspruch, der ein Merkmal nur optional vorsieht, nicht ohne weiteres gleichbedeutend mit einer Abfolge von zwei Patentansprüchen, von denen der erste einen bestimmten Gegenstand ohne das in Rede stehende Merkmal und der zweite denselben Gegenstand mit diesem Merkmal schützt.
BGH online
Die Beklagte ist Inhaberin des europäischen Patents 915 894 (Grundpatents), das am 25.7.1997 unter Inanspruchnahme einer US-amerikanischen Priorität vom 26.7.1996 angemeldet worden war und Zwischenprodukte für Nukleotidanaloga betrifft. Am 21.2.2005 erlangte die Beklagte die arzneimittelrechtliche Zulassung für das Aids-Präparat "Truvada", das als Wirkstoffe die in Patentanspruch 25 aufgeführte Substanz Tenofovirdisoproxil sowie Emtricitabin enthält.
Aufgrund einer Anmeldung vom 5.7.2005 erhielt die Beklagte durch Beschluss des Bundespatentgerichts vom 12.5.2011 (15 W [pat] 24/07) das ergänzende Schutzzertifikat 12 2005 000 041 (Streitzertifikat) für Tenofovirdisoproxil und die Salze, insbesondere das Fumarat, Hydrate, Tautomere und Solvate davon in Kombination mit Emtricitabin. Die Laufzeit des Streitzertifikats endete am 24.2.2020.
Die Klägerinnen haben geltend gemacht, das Streitzertifikat sei nach Art. 15 Abs. 1 Buchst. a i.V.m. Art. 3 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 469/2009 ESZVO für nichtig zu erklären. Die Beklagte hat das Streitzertifikat verteidigt. Das Patentgericht hat das Streitzertifikat für nichtig erklärt. Der BGH hat die Entscheidung im Berufungsverfahren bestätigt.
Gründe:
Das Rechtsschutzinteresse der Klägerinnen ist durch das Erlöschen des Streitzertifikats nicht entfallen. Das nach Ablauf der Schutzdauer eines ergänzenden Schutzzertifikats erforderliche Rechtsschutzinteresse für eine Nichtigkeitsklage liegt vor, wenn nicht auszuschließen ist, dass der Kläger aufgrund von Handlungen eines mit ihm verbundenen Unternehmens wegen Verletzung des Zertifikats in Anspruch genommen wird.
Zu Recht hat das Patentgericht entschieden, dass das Streitzertifikat nach Art. 15 Abs. 1 Buchst. a und Art. 3 Buchst. a ESZVO für nichtig zu erklären ist, weil die Kombination der Wirkstoffe Tenofovirdisoproxil und Emtricitabin nicht im Sinne der zuletzt genannten Vorschrift durch das Grundpatent geschützt ist. Die Erteilung eines Zertifikats setzt insbesondere voraus, dass in dem Mitgliedstaat der EU, in dem die Anmeldung eingereicht wird, zum Zeitpunkt dieser Anmeldung für das in Rede stehende Erzeugnis eine gültige arzneimittelrechtliche Zulassung erteilt wurde (Art. 3 Buchst. b ESZVO) und dieses Erzeugnis durch ein in Kraft befindliches Grundpatent geschützt ist (Art. 3 Buchst. a ESZVO).
Im vorliegenden Fall ist zwar die erste Voraussetzung erfüllt, nicht aber die zweite. Denn nach der EuGH-Rechtsprechung steht Art. 3 Buchst. a ESZVO der Erteilung eines Zertifikats für eine Kombination von Wirkstoffen entgegen, wenn einer dieser Wirkstoffe in den Ansprüchen des Grundpatents nicht genannt ist. Dabei ist es nicht erforderlich, dass ein Wirkstoff ausdrücklich angeführt ist. Es genügt, dass er unter eine in den Ansprüchen des Grundpatents enthaltene strukturelle oder funktionelle Definition fällt.
In einer Entscheidung anlässlich des Verfahrens über das im Vereinigten Königreich erteilte Schutzzertifikat für dasselbe Erzeugnis hat der Gerichtshof diese Anforderung dahin konkretisiert, dass ein Zertifikat für ein Erzeugnis, das aus mehreren Wirkstoffen besteht, die eine kombinierte Wirkung haben, nur dann erteilt werden darf, wenn die Kombination der Wirkstoffe im Licht der Beschreibung und der Zeichnungen des Patents notwendigerweise von der durch das Patent geschützten Erfindung erfasst ist und jeder der Wirkstoffe im Licht aller durch das Patent offengelegten Angaben spezifisch identifizierbar ist.
Ein Erzeugnis, das aus den Wirkstoffen Tenofovirdisoproxil und Emtricitabin besteht, ist bei Anlegung dieser Maßstäbe nicht durch das Grundpatent geschützt. Die genannte Wirkstoffkombination ist nicht notwendigerweise von der durch das Patent geschützten Erfindung erfasst. Zudem ist nicht jeder der beiden Wirkstoffe im dargelegten Sinn spezifisch identifizierbar. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist ein Patentanspruch, der ein Merkmal nur optional vorsieht, nicht ohne weiteres gleichbedeutend mit einer Abfolge von zwei Patentansprüchen, von denen der erste einen bestimmten Gegenstand ohne das in Rede stehende Merkmal und der zweite denselben Gegenstand mit diesem Merkmal schützt.