Sprunghafte Preiserhöhung kann auf Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung hindeuten (Stornierungsentgelt II)
BGH v. 8.12.2020 - KZR 60/16
Der Sachverhalt:
Die Beklagte ist eine Tochtergesellschaft der Deutsche Bahn AG. Sie unterhält nahezu das gesamte Eisenbahn-Schienennetz in Deutschland. Die Klägerin, ein Eisenbahnverkehrsunternehmen, nutzt dieses Netz für die Erbringung von Dienstleistungen im Bereich des schienengebundenen Güterverkehrs. Im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit stehen internationale Gütertransporte mit Ausgangs- oder Zielort Rotterdam. Die Klägerin verlangte von der Beklagten Rückzahlung von Entgelten, die sie für die Stornierung von Trassenbestellungen an die Klägerin entrichtet hatte.
Die Beklagte schließt mit zugangsberechtigten Unternehmen jeweils Rahmenverträge über die Nutzung der Eisenbahninfrastruktur ab. Diese Infrastrukturnutzungsverträge bilden die Grundlage für die über die jeweiligen Trassennutzungen abzuschließenden Einzelnutzungsverträge. Demgemäß regelt der zwischen der Beklagten, der niederländischen Infrastrukturbetreiberin Railned B.V. und der Klägerin geschlossene "Vertrag über die Nutzung der Nord-Süd-Güterschnellverkehrstrassen" aus dem Jahr 2001 die Grundsätze der Vertragsbeziehungen zwischen den Parteien. Nach Art. 1 Abs. 4, Nr. 7 Abs. 1 Anlage 2a bestimmt sich das von der Klägerin zu entrichtende Entgelt nach den jeweils gültigen, von der Beklagten für jede Netzfahrplanperiode festgelegten Trassen- und Anlagepreislisten.
Den Eisenbahnunternehmen gewährt die Beklagte das Recht, bestellte und bereits zugewiesene Trassen vor ihrer Inanspruchnahme zu stornieren. Als Entgelt für eine Stornierung berechnete sie auf Grundlage ihres jeweiligen Trassenpreissystems einen Pauschalbetrag zzgl. eines prozentualen Anteils des bei Nutzung zu entrichtenden Trassenpreises. Dieser variable Anteil des Stornierungsentgelts war in Abhängigkeit vom Zeitpunkt der Stornierung gestaffelt.
Mit Einführung des Trassenpreissystems 2008 (TPS 08), das der Bundesnetzagentur gemeinsam mit den Schienennetz-Nutzungsbedingungen (SNB) zur Vorabprüfung mitgeteilt worden war, erhöhte die Beklagte im Dezember 2007 den variablen Bestandteil der Stornierungsentgelte in allen Kategorien um 150 Prozent. Zum Fahrplanwechsel im Dezember 2011 nahm die Beklagte die Erhöhungen zurück.
Die Klägerin begehrte Rückzahlung der aus der Erhöhung der Stornierungsentgelte resultierenden Beträge für die Jahre 2009 bis 2011. Das LG hat die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung von 254.258 € verurteilt. Nach erfolgloser Berufung hat der BGH im Revisionsverfahren das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurückverwiesen.
Gründe:
Als rechtsfehlerhaft erwies sich die Annahme des OLG, die von der Beklagten erhobenen Stornierungsentgelte seien am Maßstab der individuellen vertraglichen Billigkeit i.S.d. § 315 Abs. 3 BGB zu überprüfen. Wie der EuGH mit Urteil vom 9.11.2017 - C-489/15 - CTL Logistics nach Verkündung des Berufungsurteils ausgesprochen hat, steht die zivilgerichtliche Überprüfung der Stornierungsentgelte am Maßstab des § 315 BGB nicht in Einklang mit den Vorgaben der Richtlinie 2001/14/EG, insbesondere nicht mit den Vorschriften der Art. 4 Abs. 5 und Art. 30 Abs. 1, 3, 5 und 6 Richtlinie 2001/14/EG, und muss daher unterbleiben.
Die Vorschrift des Art. 102 AEUV ist im Streitfall anwendbar. Nach ihr ist mit dem Binnenmarkt unvereinbar und verboten die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Binnenmarkt oder auf einem wesentlichen Teil desselben durch ein oder mehrere Unternehmen, soweit dies dazu führen kann, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Das OLG wird daher im wiedereröffneten Berufungsrechtszug zu prüfen haben, ob die von der Beklagten vollzogene Erhöhung der Stornierungsentgelte missbräuchlich nach Art. 102 AEUV ist.
Danach kann die Weigerung eines marktbeherrschenden Unternehmens, einem anderen Unternehmen zu angemessenen, nicht-diskriminierenden Bedingungen Zugang zu einer wesentlichen Einrichtung zu gewähren, der für die Ausübung der Tätigkeit des anderen Unternehmens unerlässlich ist, einen Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung darstellen. Ein Preis ist missbräuchlich überhöht i.S.d. Art. 102 AEUV, wenn der Inhaber einer marktbeherrschenden Stellung die sich daraus ergebenden Möglichkeiten genutzt hat, um geschäftliche Vorteile zu erhalten, die er bei hinreichend wirksamem Wettbewerb nicht erhalten hätte, und daher Preise hat durchsetzen können, die in keinem angemessenen Verhältnis zu dem wirtschaftlichen Wert der erbrachten Leistung stehen. Eine sprunghafte Preiserhöhung von einigem Gewicht kann dabei ein bedeutsames Indiz für die missbräuchliche Ausnutzung von Handlungsspielräumen des marktbeherrschenden Unternehmens darstellen, die durch Wettbewerb nicht hinreichend kontrolliert sind.
BGH online
Die Beklagte ist eine Tochtergesellschaft der Deutsche Bahn AG. Sie unterhält nahezu das gesamte Eisenbahn-Schienennetz in Deutschland. Die Klägerin, ein Eisenbahnverkehrsunternehmen, nutzt dieses Netz für die Erbringung von Dienstleistungen im Bereich des schienengebundenen Güterverkehrs. Im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit stehen internationale Gütertransporte mit Ausgangs- oder Zielort Rotterdam. Die Klägerin verlangte von der Beklagten Rückzahlung von Entgelten, die sie für die Stornierung von Trassenbestellungen an die Klägerin entrichtet hatte.
Die Beklagte schließt mit zugangsberechtigten Unternehmen jeweils Rahmenverträge über die Nutzung der Eisenbahninfrastruktur ab. Diese Infrastrukturnutzungsverträge bilden die Grundlage für die über die jeweiligen Trassennutzungen abzuschließenden Einzelnutzungsverträge. Demgemäß regelt der zwischen der Beklagten, der niederländischen Infrastrukturbetreiberin Railned B.V. und der Klägerin geschlossene "Vertrag über die Nutzung der Nord-Süd-Güterschnellverkehrstrassen" aus dem Jahr 2001 die Grundsätze der Vertragsbeziehungen zwischen den Parteien. Nach Art. 1 Abs. 4, Nr. 7 Abs. 1 Anlage 2a bestimmt sich das von der Klägerin zu entrichtende Entgelt nach den jeweils gültigen, von der Beklagten für jede Netzfahrplanperiode festgelegten Trassen- und Anlagepreislisten.
Den Eisenbahnunternehmen gewährt die Beklagte das Recht, bestellte und bereits zugewiesene Trassen vor ihrer Inanspruchnahme zu stornieren. Als Entgelt für eine Stornierung berechnete sie auf Grundlage ihres jeweiligen Trassenpreissystems einen Pauschalbetrag zzgl. eines prozentualen Anteils des bei Nutzung zu entrichtenden Trassenpreises. Dieser variable Anteil des Stornierungsentgelts war in Abhängigkeit vom Zeitpunkt der Stornierung gestaffelt.
Mit Einführung des Trassenpreissystems 2008 (TPS 08), das der Bundesnetzagentur gemeinsam mit den Schienennetz-Nutzungsbedingungen (SNB) zur Vorabprüfung mitgeteilt worden war, erhöhte die Beklagte im Dezember 2007 den variablen Bestandteil der Stornierungsentgelte in allen Kategorien um 150 Prozent. Zum Fahrplanwechsel im Dezember 2011 nahm die Beklagte die Erhöhungen zurück.
Die Klägerin begehrte Rückzahlung der aus der Erhöhung der Stornierungsentgelte resultierenden Beträge für die Jahre 2009 bis 2011. Das LG hat die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung von 254.258 € verurteilt. Nach erfolgloser Berufung hat der BGH im Revisionsverfahren das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurückverwiesen.
Gründe:
Als rechtsfehlerhaft erwies sich die Annahme des OLG, die von der Beklagten erhobenen Stornierungsentgelte seien am Maßstab der individuellen vertraglichen Billigkeit i.S.d. § 315 Abs. 3 BGB zu überprüfen. Wie der EuGH mit Urteil vom 9.11.2017 - C-489/15 - CTL Logistics nach Verkündung des Berufungsurteils ausgesprochen hat, steht die zivilgerichtliche Überprüfung der Stornierungsentgelte am Maßstab des § 315 BGB nicht in Einklang mit den Vorgaben der Richtlinie 2001/14/EG, insbesondere nicht mit den Vorschriften der Art. 4 Abs. 5 und Art. 30 Abs. 1, 3, 5 und 6 Richtlinie 2001/14/EG, und muss daher unterbleiben.
Die Vorschrift des Art. 102 AEUV ist im Streitfall anwendbar. Nach ihr ist mit dem Binnenmarkt unvereinbar und verboten die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Binnenmarkt oder auf einem wesentlichen Teil desselben durch ein oder mehrere Unternehmen, soweit dies dazu führen kann, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Das OLG wird daher im wiedereröffneten Berufungsrechtszug zu prüfen haben, ob die von der Beklagten vollzogene Erhöhung der Stornierungsentgelte missbräuchlich nach Art. 102 AEUV ist.
Danach kann die Weigerung eines marktbeherrschenden Unternehmens, einem anderen Unternehmen zu angemessenen, nicht-diskriminierenden Bedingungen Zugang zu einer wesentlichen Einrichtung zu gewähren, der für die Ausübung der Tätigkeit des anderen Unternehmens unerlässlich ist, einen Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung darstellen. Ein Preis ist missbräuchlich überhöht i.S.d. Art. 102 AEUV, wenn der Inhaber einer marktbeherrschenden Stellung die sich daraus ergebenden Möglichkeiten genutzt hat, um geschäftliche Vorteile zu erhalten, die er bei hinreichend wirksamem Wettbewerb nicht erhalten hätte, und daher Preise hat durchsetzen können, die in keinem angemessenen Verhältnis zu dem wirtschaftlichen Wert der erbrachten Leistung stehen. Eine sprunghafte Preiserhöhung von einigem Gewicht kann dabei ein bedeutsames Indiz für die missbräuchliche Ausnutzung von Handlungsspielräumen des marktbeherrschenden Unternehmens darstellen, die durch Wettbewerb nicht hinreichend kontrolliert sind.