22.06.2017

Ursachenzusammenhang zwischen fehlerhaftem Impfstoff und Krankheit kann durch Indizienbündel bewiesen werden

Der Fehler eines Impfstoffs und der ursächliche Zusammenhang zwischen diesem Fehler und einer Krankheit können bei fehlendem wissenschaftlichem Konsens durch ein Bündel ernsthafter, klarer und übereinstimmender Indizien bewiesen werden. Die zeitliche Nähe zwischen der Verabreichung eines Impfstoffs und dem Auftreten einer Krankheit, fehlende Vorerkrankungen bei der geimpften Person selbst und in ihrer Familie sowie das Vorliegen einer bedeutenden Anzahl erfasster Fälle des Auftretens der Krankheit nach solchen Verabreichungen können gegebenenfalls hinreichende Indizien für die Erbringung dieses Beweises darstellen.

EuGH 21.6.2017, C-621/15
Der Sachverhalt:
Zwischen Ende 1998 und Mitte 1999 wurde Herr J.W. mit einem von der beklagten Firma Sanofi Pasteur hergestellten Impfstoff gegen Hepatitis B geimpft. Von August 1999 an traten bei ihm verschiedene Beschwerden auf, die im November 2000 zur Diagnose einer Multiplen Sklerose führten. Im Jahr 2011 starb J.W. Bereits 2006 hatten er und seine Familie (die Kläger) gegen die Beklagte Klage auf Ersatz des Schadens erhoben, der ihm durch den Impfstoff entstanden sei.

Das mit der Rechtssache befasste Berufungsgericht in Frankreich stellte u.a. fest, dass es keinen wissenschaftlichen Konsens gebe, auf den ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Impfung gegen Hepatitis B und dem Auftreten der Multiplen Sklerose gestützt werden könne. Es entschied, dass ein solcher ursächlicher Zusammenhang nicht bewiesen worden sei, und wies die Klage ab.

Der mit einer Kassationsbeschwerde gegen das Urteil befasste französische Kassationsgerichtshof setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH Fragen zur Vorabentscheidung vor. Das Gericht möchte insbesondere wissen, ob es sich trotz des Fehlens eines wissenschaftlichen Konsenses und unter Berücksichtigung dessen, dass es nach der Richtlinie der Union über die Haftung für fehlerhafte Produkte Sache des Geschädigten sei, den Schaden, den Fehler und den ursächlichen Zusammenhang zu beweisen, auf ernsthafte, klare und übereinstimmende Indizien stützen könne, um den Fehler eines Impfstoffs und den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Impfstoff und der Krankheit festzustellen.

Die Gründe:
Eine Beweisregel ist mit der Richtlinie vereinbar, wenn das Gericht bei Nichtvorliegen sicherer und unwiderlegbarer Beweise auf der Grundlage eines Bündels ernsthafter, klarer und übereinstimmender Indizien auf einen Fehler des Impfstoffs und einen ursächlichen Zusammenhang zwischen diesem und einer Krankheit schließen kann. Dies gilt jedenfalls dann, wenn ihm dieses Indizienbündel gestattet, mit einem hinreichend hohen Grad an Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass diese Schlussfolgerung der Wirklichkeit entspricht. Eine solche Regel ist nämlich nicht geeignet, zu einer Umkehrung der bei dem Geschädigten liegenden Beweislast zu führen, da der Geschädigte die verschiedenen Indizien zu beweisen hat, die es zusammengenommen dem Gericht ermöglichen, sich vom Vorliegen des Fehlers des Impfstoffs und des ursächlichen Zusammenhangs zwischen diesem und dem erlittenen Schaden zu überzeugen.

Der Ausschluss aller anderen Arten der Beweisführung außer dem auf medizinischer Forschung beruhenden sicheren Beweis hätte die Wirkung, die Inanspruchnahme der Haftung des Herstellers übermäßig schwierig oder, wenn aufgrund der medizinischen Forschung ein ursächlicher Zusammenhang weder bewiesen noch widerlegt werden kann, gar unmöglich zu machen. Hierdurch würden die praktische Wirksamkeit der Richtlinie sowie deren Ziele beeinträchtigt. Die nationalen Gerichte haben jedoch dafür Sorge zu tragen, dass die vorgelegten Indizien tatsächlich hinreichend ernsthaft, klar und übereinstimmend sind, um den Schluss zuzulassen, dass das Vorliegen eines Fehlers des Produkts unter Berücksichtigung auch der vom Hersteller zu seiner Verteidigung vorgebrachten Beweismittel und Argumente als die plausibelste Erklärung für den Eintritt des Schadens erscheint. Das Gericht muss seine eigene freie Würdigung bzgl. der Frage, ob der Beweis rechtlich hinreichend erbracht worden ist oder nicht, bis zu dem Zeitpunkt bewahren, in dem es sich in der Lage sieht, zu einer endgültigen Überzeugung zu gelangen.

Vorliegend scheinen die zeitliche Nähe zwischen der Verabreichung des Impfstoffs und dem Auftreten der Krankheit, das Fehlen einschlägiger Vorerkrankungen des Betroffenen und seiner Familie sowie das Vorliegen einer bedeutenden Anzahl erfasster Fälle, in denen diese Krankheit nach solchen Impfungen aufgetreten ist, a priori Indizien darzustellen, die das nationale Gericht zu dem Schluss führen können, dass der Geschädigte seiner Beweislast Genüge getan hat. Dies könnte insbesondere dann der Fall sein, wenn diese Indizien das Gericht zur Annahme bewegen, dass zum einen die Verabreichung des Impfstoffs die plausibelste Erklärung für das Auftreten der Krankheit darstellt und zum anderen der Impfstoff nicht die Sicherheit bietet, die man berechtigterweise erwarten darf. Im Übrigen können weder der nationale Gesetzgeber noch die nationalen Gerichte eine Art der Beweisführung durch Vermutungen einführen, die es gestattete, das Vorliegen eines ursächlichen Zusammenhangs automatisch zu begründen, wenn bestimmte konkrete, im Voraus festgelegte Indizien vorliegen: eine solche Art der Beweisführung würde die von der Richtlinie vorgesehene Beweislastregel beeinträchtigen.

Linkhinweis:

Für den auf den Webseiten des EuGH veröffentlichten Volltext der Entscheidung klicken Sie bitte hier.

EuGH PM Nr. 66 vom 21.6.2017
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