Verfassungsbeschwerden gegen anlasslose Vorratsdatenspeicherung erfolglos
BVerfG v. 15.2.2023 - 1 BvR 141/16 u.a.
Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführenden wenden sich gegen die gesetzlichen Vorschriften über die anlasslose Vorratsspeicherung, ursprünglich insbesondere geregelt in § 113b Abs. 1 bis 4 sowie § 113c Abs. 1 TKG und § 100g Abs. 2 sowie § 100g Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 100g Abs. 2 StPO. Zur Begründung machten sie geltend, die darin vorgesehene Speicherung ihrer Verkehrsdaten verstoße u.a. gegen ihre Grundrechte aus Art. 10 Abs. 1 GG (Telekommunikationsfreiheit), Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG (allgemeines Persönlichkeitsrecht in der Ausprägung der informationellen Selbstbestimmung) und Art. 12 Abs. 1 GG (Berufsfreiheit). Seit Juni 2021 finden sich die hier maßgeblichen Vorschriften ihrem Inhalt nach in § 176 Abs. 1 bis 4 sowie § 177 Abs. 1 TKG n.F. und § 100g Abs. 2 sowie § 100g Abs. 3 i.V.m. § 100g Abs. 2 StPO n.F.
Mit Beschluss vom 25.9.2019 (6 C 12.18) setzte das BVerwG ein verwaltungsgerichtliches Verfahren aus, in dem sich Telekommunikationsdienstleister gegen ihre in § 113a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 113b TKG geregelte Pflicht zur anlasslosen Vorratsdatenspeicherung gewandt hatten. Zur Begründung wurde ausgeführt, es sei entscheidungserheblich und bedürfe der Klärung durch den EuGH, ob diese Pflicht mit dem Unionsrecht vereinbar sei. Mit Urteil vom 20.9.2022 entschied der EuGH (C-793/19 u.a.) im Wesentlichen, dass das Unionsrecht nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehe, die präventiv zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsähen.
Das BVerfG nahm die drei Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung an.
Die Gründe:
Die Verfassungsbeschwerden sind unzulässig und haben damit keine Aussicht auf Erfolg.
Beschwerdeführende sind angehalten, ihre Verfassungsbeschwerden bei entscheidungserheblicher Veränderung der Sach- und Rechtslage aktuell zu halten und die Beschwerdebegründung ggf. auch nachträglich zu ergänzen. Sie trifft eine Begründungslast für das (Fort-)Bestehen der Annahme- und Zulässigkeitsvoraussetzungen. Dieser Begründungslast sind die Beschwerdeführenden nicht nachgekommen, obwohl Anlass dafür bestand, von einer entscheidungserheblichen Veränderung der Sach- und Rechtslage auszugehen. Jedenfalls nach dem Urteil des EuGH vom 20.9.2022 wären sie gehalten gewesen, ihren Vortrag substantiiert dahingehend zu ergänzen, ob und inwieweit ihr Rechtsschutzbedürfnis weiter fortbestand.
Grundsätzlich gibt es für eine Überprüfung einer nationalen Norm im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde kein Bedürfnis, wenn schon feststeht, dass die Norm dem Unionsrecht widerspricht und deshalb innerstaatlich nicht angewendet werden darf. Jedenfalls nach dem Ergehen des EuGH-Urteils musste es sich den Beschwerdeführenden aufdrängen, zur Frage ihres fortbestehenden Rechtsschutzbedürfnisses nachzutragen.
So hat das BVerwG in seinem Vorlagebeschluss die Aussetzung des Verfahrens und die notwendige Vorlage an den EuGH ausdrücklich in Hinblick auf den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts mit einer möglichen Unanwendbarkeit der vorliegend angegriffenen Vorschriften begründet. Auf diese Vorlage hin hat der EuGH im Wesentlichen entschieden, dass die Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation im Lichte von Art. 7 (Achtung des Privatlebens), Art. 8 (Schutz personenbezogener Daten) und Art. 11 (Freiheit der Meinungsäußerung) sowie von Art. 52 Abs. 1 (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehe, die präventiv zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsähen. Eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten sei nur unter verschiedenen engen Voraussetzungen zulässig.
Um den Substantiierungsanforderungen zu genügen, hätten die Beschwerdeführenden vor diesem Hintergrund vortragen müssen, inwieweit noch ein Rechtsschutzbedürfnis für eine Prüfung der angegriffenen Vorschriften am Maßstab des GG fortbestehen sollte. Unerheblich ist dabei, dass die Regelungen zwischenzeitlich neugefasst wurden. Zum einen ging hiermit gerade keine inhaltliche Änderung einher, zum anderen erstreckte sich die Vorlagefrage auf das insoweit unverändert gebliebene Regelungskonzept der deutschen anlasslosen Vorratsdatenspeicherung. Die Relevanz weiteren Vortrags hätte sich aber umso mehr aufdrängen müssen, als die Beschwerdeführenden wegen bestehender Zweifel an der Unionsrechtskonformität mit ihren Verfassungsbeschwerden ursprünglich selbst angeregt hatten, dem EuGH die Frage der Vereinbarkeit der angegriffenen Vorschriften mit dem Unionsrecht vorzulegen. Nachdem dieser die Frage der (Un)Vereinbarkeit der Vorratsdatenspeicherung mit dem Unionsrecht geklärt hat, haben die Beschwerdeführenden sich jedoch nicht mehr verhalten.
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Aufsatz:
Die Vorgaben des EuGH zur Vorratsdatenspeicherung und ihre Umsetzung im jüngsten Referentenentwurf
Gerd Kiparski, CR 2022, 715
Rechtsprechung:
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EuGH vom 20.09.2022 - C-793/19
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Kurzbeitrag:
EuGH: Allgemeine und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung nur bei ernster Bedrohung für nationale Sicherheit
Stefanie Fuchs-Galilea, ITRB 2022, 217
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BVerfG PM Nr. 37 vom 30.3.2023
Die Beschwerdeführenden wenden sich gegen die gesetzlichen Vorschriften über die anlasslose Vorratsspeicherung, ursprünglich insbesondere geregelt in § 113b Abs. 1 bis 4 sowie § 113c Abs. 1 TKG und § 100g Abs. 2 sowie § 100g Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 100g Abs. 2 StPO. Zur Begründung machten sie geltend, die darin vorgesehene Speicherung ihrer Verkehrsdaten verstoße u.a. gegen ihre Grundrechte aus Art. 10 Abs. 1 GG (Telekommunikationsfreiheit), Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG (allgemeines Persönlichkeitsrecht in der Ausprägung der informationellen Selbstbestimmung) und Art. 12 Abs. 1 GG (Berufsfreiheit). Seit Juni 2021 finden sich die hier maßgeblichen Vorschriften ihrem Inhalt nach in § 176 Abs. 1 bis 4 sowie § 177 Abs. 1 TKG n.F. und § 100g Abs. 2 sowie § 100g Abs. 3 i.V.m. § 100g Abs. 2 StPO n.F.
Mit Beschluss vom 25.9.2019 (6 C 12.18) setzte das BVerwG ein verwaltungsgerichtliches Verfahren aus, in dem sich Telekommunikationsdienstleister gegen ihre in § 113a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 113b TKG geregelte Pflicht zur anlasslosen Vorratsdatenspeicherung gewandt hatten. Zur Begründung wurde ausgeführt, es sei entscheidungserheblich und bedürfe der Klärung durch den EuGH, ob diese Pflicht mit dem Unionsrecht vereinbar sei. Mit Urteil vom 20.9.2022 entschied der EuGH (C-793/19 u.a.) im Wesentlichen, dass das Unionsrecht nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehe, die präventiv zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsähen.
Das BVerfG nahm die drei Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung an.
Die Gründe:
Die Verfassungsbeschwerden sind unzulässig und haben damit keine Aussicht auf Erfolg.
Beschwerdeführende sind angehalten, ihre Verfassungsbeschwerden bei entscheidungserheblicher Veränderung der Sach- und Rechtslage aktuell zu halten und die Beschwerdebegründung ggf. auch nachträglich zu ergänzen. Sie trifft eine Begründungslast für das (Fort-)Bestehen der Annahme- und Zulässigkeitsvoraussetzungen. Dieser Begründungslast sind die Beschwerdeführenden nicht nachgekommen, obwohl Anlass dafür bestand, von einer entscheidungserheblichen Veränderung der Sach- und Rechtslage auszugehen. Jedenfalls nach dem Urteil des EuGH vom 20.9.2022 wären sie gehalten gewesen, ihren Vortrag substantiiert dahingehend zu ergänzen, ob und inwieweit ihr Rechtsschutzbedürfnis weiter fortbestand.
Grundsätzlich gibt es für eine Überprüfung einer nationalen Norm im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde kein Bedürfnis, wenn schon feststeht, dass die Norm dem Unionsrecht widerspricht und deshalb innerstaatlich nicht angewendet werden darf. Jedenfalls nach dem Ergehen des EuGH-Urteils musste es sich den Beschwerdeführenden aufdrängen, zur Frage ihres fortbestehenden Rechtsschutzbedürfnisses nachzutragen.
So hat das BVerwG in seinem Vorlagebeschluss die Aussetzung des Verfahrens und die notwendige Vorlage an den EuGH ausdrücklich in Hinblick auf den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts mit einer möglichen Unanwendbarkeit der vorliegend angegriffenen Vorschriften begründet. Auf diese Vorlage hin hat der EuGH im Wesentlichen entschieden, dass die Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation im Lichte von Art. 7 (Achtung des Privatlebens), Art. 8 (Schutz personenbezogener Daten) und Art. 11 (Freiheit der Meinungsäußerung) sowie von Art. 52 Abs. 1 (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehe, die präventiv zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsähen. Eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten sei nur unter verschiedenen engen Voraussetzungen zulässig.
Um den Substantiierungsanforderungen zu genügen, hätten die Beschwerdeführenden vor diesem Hintergrund vortragen müssen, inwieweit noch ein Rechtsschutzbedürfnis für eine Prüfung der angegriffenen Vorschriften am Maßstab des GG fortbestehen sollte. Unerheblich ist dabei, dass die Regelungen zwischenzeitlich neugefasst wurden. Zum einen ging hiermit gerade keine inhaltliche Änderung einher, zum anderen erstreckte sich die Vorlagefrage auf das insoweit unverändert gebliebene Regelungskonzept der deutschen anlasslosen Vorratsdatenspeicherung. Die Relevanz weiteren Vortrags hätte sich aber umso mehr aufdrängen müssen, als die Beschwerdeführenden wegen bestehender Zweifel an der Unionsrechtskonformität mit ihren Verfassungsbeschwerden ursprünglich selbst angeregt hatten, dem EuGH die Frage der Vereinbarkeit der angegriffenen Vorschriften mit dem Unionsrecht vorzulegen. Nachdem dieser die Frage der (Un)Vereinbarkeit der Vorratsdatenspeicherung mit dem Unionsrecht geklärt hat, haben die Beschwerdeführenden sich jedoch nicht mehr verhalten.
Aufsatz:
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Stefanie Fuchs-Galilea, ITRB 2022, 217
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