08.05.2015

Wann übersteigen Hilfsmittel das medizinisch notwendige Maß?

Aufwendungen für ein vom Arzt verordnetes und vom Versicherungsnehmer erworbenes Hilfsmittel übersteigen das medizinisch notwendige Maß, wenn einerseits das Hilfsmittel zusätzliche, nicht benötigte Funktionen oder Ausstattungsmerkmale aufweist, und andererseits zugleich preiswertere, den notwendigen medizinischen Anforderungen für den jeweiligen Versicherungsnehmer entsprechende Hilfsmittel ohne diese zusätzlichen Funktionen oder Ausstattungsmerkmale zur Verfügung stehen. Der Versicherer muss beweisen, dass bei einem an sich notwendigen Hilfsmittel bestimmte Funktionen oder Ausstattungsmerkmale medizinisch nicht notwendig sind.

BGH 22.4.2015, IV ZR 419/13
Der Sachverhalt:
Die Klägerin unterhält bei der Beklagten eine private Krankheitskostenversicherung. Dem Versicherungsvertrag liegen die Rahmenbedingungen 2009 (RB/KK 2009) und Tarifbedingungen 2009 (TB/KK 2009)zugrunde. Die Parteien stritten in der Vergangenheit über den Umfang der Erstattungspflicht der Beklagten für den Erwerb eines Hörgerätes.

Nachdem der Klägerin für ihr linkes Ohr ein Hörgerät verordnet worden war, nahm sie eine vergleichende Anpassung verschiedener Hörgerätetypen vor und erwarb schließlich ein Hörgerät Widex Clear 440c zum Preis von 3.083 €. Die Beklagte erstattete hierauf lediglich 1.500 €, weil sie der Auffassung war, dass das Gerät medizinisch nicht notwendig sei, da es zahlreiche im Falle der Klägerin medizinisch nicht gebotene Ausstattungsmerkmale aufweise. Alternativgeräte seien für 1.500 € zu erhalten. Sie berief sich insofern auf den Leistungsausschluss nach § 5 Abs. 2 S. 1 RB/KK.

AG und LG gaben der auf Zahlung des Differenzbetrages von 1.583 € gerichteten Klage statt. Auf die Revision der Beklagten hob der BGH das Berufungsurteil auf und wies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LG zurück.

Gründe:
Zunächst war das Berufungsgericht zu Unrecht der Ansicht, dass sich das Leistungskürzungsrecht des Versicherers in § 5 Abs. 2 S. 1 RB/KK 2009 nicht auf Aufwendungen für Hilfsmittel bezieht.

Allgemeine Versicherungsbedingungen sind nach ständiger BGH-Rechtsprechung so auszulegen, wie sie ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs verstehen muss. Dem Wortlaut des § 5 Abs. 2 S. 1 RB/KK 2009 kann der Versicherungsnehmer entnehmen, dass die Leistungseinschränkung für Heilbehandlungen und sonstige Maßnahmen gelten soll. Er kann als Ziel der Übermaßregelung erkennen, dass der Versicherer sich vor einer unnötigen Kostenbelastung durch aus medizinischer Sicht nicht notwendige "Maßnahmen" schützen will. Dies gilt für Hilfsmittel ebenso wie für Heilbehandlungsmaßnahmen. Im Gegenteil besteht die Gefahr einer Überversorgung, der die Regelung erkennbar vorbeugen will, gerade dann, wenn die Auswahl des konkreten Hilfsmittels von einer Willensentscheidung des Versicherungsnehmers abhängt.

Die Aufwendungen für ein vom Arzt verordnetes und vom Versicherungsnehmer erworbenes Hilfsmittel übersteigen das medizinisch notwendige Maß i.S.v. § 5 Abs. 2 S. 1 RB/KK 2009 dann, wenn einerseits das Hilfsmittel zusätzliche, nicht benötigte Funktionen oder Ausstattungsmerkmale aufweist, und andererseits zugleich preiswertere, den notwendigen medizinischen Anforderungen für den jeweiligen Versicherungsnehmer entsprechende Hilfsmittel ohne diese zusätzlichen Funktionen oder Ausstattungsmerkmale zur Verfügung stehen. Allerdings muss der Versicherer, der seine Leistungen wegen einer Übermaßbehandlung kürzen will, beweisen, dass bei einer an sich medizinisch notwendigen Heilbehandlung eine einzelne Behandlungsmaßnahme medizinisch nicht notwendig ist.

Übertragen auf Hilfsmittel muss der Versicherer, um sich auf die Leistungseinschränkung berufen zu können, darlegen und beweisen, dass bei einem an sich notwendigen Hilfsmittel bestimmte Funktionen oder Ausstattungsmerkmale medizinisch nicht notwendig sind. Darüber hinaus muss er auch darlegen und beweisen, dass ein Hilfsmittel ohne diese Ausstattungsmerkmale oder Funktionen, welches ebenfalls - gemessen an den Bedürfnissen des Versicherungsnehmers - das medizinisch notwendige Maß erfüllt, zu einem niedrigeren Preis auf dem Markt erhältlich ist.

Nicht gefolgt werden konnte der Ansicht des Berufungsgerichts, dass eine Übermaßversorgung nur dann vorläge, wenn das erworbene Hörgerät im Schwerpunkt mehr als die Ersatzfunktion leistete. Diese Betrachtung verfehlte den Zweck der Übermaßregelung. Das Berufungsgericht hätte vielmehr feststellen müssen, ob auch diesen Ausführungen des Sachverständigen zur hinreichenden Eignung der Geräte für die Klägerin zu folgen ist. Es wird im weiteren Verfahren mit Hilfe des Sachverständigen klären müssen, ob die Eignung eines Hörgerätes für einen Patienten allein anhand technischer Daten bestimmt werden kann.

Linkhinweis:

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