18.07.2023

Wie weit deckt ein Vorbenutzungsrecht die Modifikation eines vorbenutzten Gegenstandes?

Die Modifikation eines vorbenutzten Gegenstandes, der alle Merkmale eines unabhängigen Schutzanspruchs des Klagegebrauchsmusters verwirklicht, kann auch dann von einem Vorbenutzungsrecht gedeckt sein, wenn der vorbenutzte Gegenstand weitere Merkmale, die nach dem Klageantrag zwingend vorgesehen sind, nicht aufgewiesen hat. Dies gilt unabhängig davon, ob lediglich die Verletzungsklage auf eine in der genannten Weise beschränkte Fassung eines unabhängigen Schutzanspruchs gestützt wird oder ob das Gebrauchsmuster in einem Löschungsverfahren entsprechend beschränkt worden ist.

BGH v. 20.6.2023 - X ZR 61/21
Der Sachverhalt:
Die Beklagte vertreibt Slipeinlagen mit den Bezeichnungen "Siempre Ultraplus 18 normal" und "Siempre Ultraplus 14 long" (angegriffene Ausführungsformen I) sowie "TIP" (angegriffene Ausführungsform II). Die Klägerin hatte in erster Instanz geltend gemacht, die angegriffenen Ausführungsformen I verletzten das Klagegebrauchsmuster in der ursprünglich eingetragenen Fassung. Sie nahm die Beklagte wegen wortsinngemäßer Verletzung des deutschen Gebrauchsmusters 298 18 178 (Klagegebrauchsmuster) in Anspruch, das während des Rechtsstreits nach Ablauf der Höchstschutzdauer erloschen ist und eine saugfähige Faserstoffbahn betrifft.

Zur Herstellung einer Faserstoffbahn wird cellulosehaltiges Material, etwa Holz- oder Pflanzenfasern, unter Druck verbunden. Das Komprimieren erfolge laut Klagegebrauchsmuster zwischen glatten Kalanderwalzen, was eine Erhöhung der Dichte bewirke. Das Material weise jedoch eine geringe Reißfestigkeit auf. Zu deren Verbesserung müssten synthetische Zusatzstoffe hinzugefügt werden, die das Recycling der Zellstofffasern erschwerten. Das Klagegebrauchsmuster betrifft vor diesem Hintergrund das technische Problem, eine Faserstoffbahn bereitzustellen, deren Reißfestigkeit und Recyclingfähigkeit verbessert ist. Zur Lösung schlägt das Schutzrecht eine Faserstoffbahn vor

Das LG hat die Beklagte im Wesentlichen antragsgemäß zur Unterlassung, Vernichtung, Auskunft und Rechnungslegung verurteilt sowie deren Schadensersatzpflicht festgestellt. In der Berufungsinstanz hat die Klägerin ihr Begehren auf die angegriffene Ausführungsform II erweitert und zeitlich an das Erlöschen des Klagegebrauchsmusters angepasst. Das OLG hat den Tenor der erstinstanzlichen Entscheidung entsprechend neu gefasst und die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.

Auf die Revision der Beklagten hat der BGH das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurückverwiesen.

Gründe:
Zwar ist das Berufungsgericht auf der Grundlage seiner zutreffenden Auslegung rechtsfehlerfrei zu der Beurteilung gelangt, dass die angegriffenen Ausführungsformen die Merkmale der zuletzt mit dem Hauptantrag geltend gemachten Anspruchsfassung verwirklichen. Mit der von ihm gegebenen Begründung kann jedoch ein Vorbenutzungsrecht der Beklagten nicht verneint werden.

Nach der Rechtsprechung des Senats ist der Vorbenutzer grundsätzlich auf die Nutzung desjenigen Besitzstands beschränkt, für den vor dem Anmelde- oder Prioritätstag sämtliche Voraussetzungen des Ausnahmetatbestands erfüllt waren. Weiterentwicklungen über den Umfang der bisherigen Benutzung hinaus sind ihm verwehrt, wenn sie in den Gegenstand der geschützten Erfindung eingreifen. Einen solchen Eingriff hat der Senat für den Fall angenommen, dass bei der als patentverletzend angegriffenen Ausführungsform erstmals alle Merkmale eines Patentanspruchs verwirklicht sind, während dies bei der vorbenutzten Ausführungsform wegen Fehlens eines dieser Merkmale noch nicht gegeben war.

Ein Eingriff in den Gegenstand des Schutzrechts kann darüber hinaus aber auch dann vorliegen, wenn der Vorbenutzer die Erfindung in einem stärkeren Maße nutzt, als dies seinem Besitzstand entspricht, oder wenn er die Erfindung in anderer Weise nutzt, als dies vor dem Anmelde- oder Prioritätstag der Fall war. Zwar darf das Vorbenutzungsrecht nicht so eng gefasst werden, dass der Vorbenutzer davon keinen wirtschaftlich sinnvollen Gebrauch machen kann. Andererseits ist aber dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die technische Lehre eines Patents oder Gebrauchsmusters Alternativen umfassen kann, die die technischen und wirtschaftlichen Vorteile der Erfindung in quantitativ oder qualitativ unterschiedlicher Weise verwirklichen. Ob in diesem Sinne eine andere Benutzungsform vorliegt, ist am Maßstab der unter Berücksichtigung von Beschreibung und Zeichnungen ausgelegten Schutzansprüche zu entscheiden.

Das Berufungsgericht hatte mit Blick auf die in Rede stehende Vorbenutzung lediglich festgestellt, dass das Produkt unstreitig keine superabsorbierenden Polymere enthalte. Hieraus hat es den Schluss gezogen, dass kein geschützter Besitzstand der Beklagten in Bezug auf die zuletzt durch die Klägerin geltend gemachte Anspruchsfassung begründet worden sei, weshalb sich die Frage einer zulässigen Modifikation am vorbenutzten Gegenstand nicht stelle. Dies hielt aber der rechtlichen Überprüfung nicht stand.

Die Modifikation eines vorbenutzten Gegenstandes, der alle Merkmale eines unabhängigen Schutzanspruchs des Klagegebrauchsmusters verwirklicht, kann auch dann von einem Vorbenutzungsrecht gedeckt sein, wenn der vorbenutzte Gegenstand weitere Merkmale, die nach dem Klageantrag zwingend vorgesehen sind, nicht aufgewiesen hat. Dies gilt unabhängig davon, ob lediglich die Verletzungsklage auf eine in der genannten Weise beschränkte Fassung eines unabhängigen Schutzanspruchs gestützt wird oder ob das Gebrauchsmuster in einem Löschungsverfahren entsprechend beschränkt worden ist.

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Aufsatz
Christian Harmsen / Christopher Weber
Privates Vorbenutzungsrecht gem. § 12 PatG
IPRB 2013, 18

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