Wilder Streik befreit Fluggesellschaft nicht von der Pflicht zur Leistung von Ausgleichszahlungen bei Flugverspätung oder -annullierung
EuGH 17.4.2018, C-195/17 u.a.Am 30.9.2016 kündigte das Management der deutschen Fluggesellschaft TUIfly der Belegschaft überraschend Pläne zur Umstrukturierung des Unternehmens an. Diese Ankündigung führte dazu, dass sich das Flugpersonal nach einem von den Arbeitnehmern selbst verbreiteten Aufruf während etwa einer Woche krank meldete. Zwischen dem 1.10. und dem 10.10.2016 stieg die Quote krankheitsbedingter Abwesenheiten, die normalerweise bei etwa 10 % lag, auf bis zu 89 % des Cockpit-Personals und bis zu 62 % des Kabinenpersonals an. Am Abend des 7.10.2016 teilte das Management von TUIfly der Belegschaft mit, dass eine Einigung mit dem Betriebsrat erzielt worden sei.
Wegen dieses "wilden Streiks" wurden zahlreiche Flüge von TUIfly annulliert oder hatten eine Ankunftsverspätung von drei Stunden oder mehr. Da TUIfly der Ansicht war, dass es sich um "außergewöhnliche Umstände" i.S.d. Verordnung (EG) Nr. 261/2004 über Fluggastrechte gehandelt habe, weigerte sie sich jedoch, den betroffenen Fluggästen die darin vorgesehenen Ausgleichszahlungen (je nach Entfernung 250 €, 400 € oder 600 €) zu leisten.
Das AG Hannover und das AG Düsseldorf, bei denen Klagen auf Leistung dieser Ausgleichszahlungen anhängig sind, wollen Wege eines Vorabentscheidungsersuchens vom EuGH wissen, ob die spontane Abwesenheit eines erheblichen Teils des Flugpersonals in Gestalt eines "wilden Streiks", wie er hier in Rede steht, unter den Begriff "außergewöhnliche Umstände" fällt, so dass die Fluggesellschaft von ihrer Ausgleichsverpflichtung befreit sein könnte.
Die Gründe:
Die spontane Abwesenheit eines erheblichen Teils des Flugpersonals (in Gestalt eines "wilden Streiks", wie er hier in Rede steht) fällt nicht unter den Begriff "außergewöhnliche Umstände", wenn sie auf die überraschende Ankündigung von Umstrukturierungsplänen durch ein ausführendes Luftfahrtunternehmen zurückgeht und einem Aufruf folgt, der nicht von den Arbeitnehmervertretern des Unternehmens verbreitet wird, sondern spontan von den Arbeitnehmern selbst, die sich krank meldeten.
Die Verordnung sieht zwei kumulative Bedingungen für die Einstufung eines Vorkommnisses als "außergewöhnlicher Umstand" vor, und zwar, dass dieses Vorkommnis seiner Natur oder Ursache nach nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit der Fluggesellschaft ist und von dieser nicht tatsächlich beherrschbar ist. Dass es in einem Erwägungsgrund der Verordnung heißt, dass solche Umstände insbesondere bei Streiks eintreten können, bedeutet noch nicht, dass ein Streik unbedingt und automatisch einen Grund für die Befreiung von der Ausgleichspflicht darstellt. Vielmehr ist von Fall zu Fall zu beurteilen, ob die beiden oben genannten Bedingungen erfüllt sind.
Vorliegend sind diese beiden Bedingungen nicht erfüllt. Erstens gehören Umstrukturierungen und betriebliche Umorganisationen zu den normalen betriebswirtschaftlichen Maßnahmen von Unternehmen. Somit ist es nicht ungewöhnlich, dass sich Fluggesellschaften bei der Ausübung ihrer Tätigkeit Meinungsverschiedenheiten oder Konflikten mit ihren Mitarbeitern oder einem Teil von ihnen gegenübersehen können. Daher sind in einer Situation wie der, zu der es Ende September/Anfang Oktober 2016 bei TUIfly kam, die Risiken, die sich aus den mit solchen Maßnahmen einhergehenden sozialen Folgen ergeben, als Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit der betreffenden Fluggesellschaft zu betrachten. Zweitens kann nicht angenommen werden, dass der hier in Rede stehende "wilde Streik" von TUIfly nicht tatsächlich beherrschbar war. Abgesehen davon, dass er auf eine Entscheidung von TUIfly zurückzuführen ist, endete er trotz der hohen Abwesenheitsquote nach einer Einigung zwischen TUIfly und dem Betriebsrat vom 7.10.2016.
Der Umstand, dass diese Vorgehensweise der Belegschaft, weil sie nicht offiziell von einer Gewerkschaft initiiert wurde, als "wilder Streik" im Sinne des einschlägigen deutschen Arbeits- und Tarifrechts einzustufen sein dürfte, spielt für die Auslegung des Begriffs "außergewöhnliche Umstände" keine Rolle. Würde nämlich zur Klärung der Frage, ob Streiks als "außergewöhnliche Umstände" i.S.d. Verordnung über die Fluggastrechte einzustufen sind, darauf abgestellt, ob sie nach dem einschlägigen nationalen Recht rechtmäßig sind oder nicht, hätte dies zur Folge, dass der Anspruch von Fluggästen auf Ausgleichszahlung von den arbeits- und tarifrechtlichen Vorschriften des jeweiligen Mitgliedstaats abhinge; dadurch würden die Ziele dieser Verordnung beeinträchtigt, ein hohes Schutzniveau für die Fluggäste sowie harmonisierte Bedingungen für die Geschäftstätigkeit von Luftfahrtunternehmen in der Union sicherzustellen.
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