18.06.2015

Zertifizierungseinrichtungen dürfen durch nationale Regelungen nicht zu Firmensitz im Inland verpflichtet werden

Die italienische Regelung, nach der Zertifizierungseinrichtungen ihren satzungsmäßigen Sitz in Italien haben müssen, verstößt gegen das Unionsrecht. Für dieses Erfordernis gibt es keine Rechtfertigungsmöglichkeit.

EuGH 16.6.2015, C-593/13
Hintergrund:
Nach der Dienstleistungsrichtlinie (Richtlinie 2006/123/EG) dürfen die Mitgliedstaaten die Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit in ihrem Hoheitsgebiet nicht von diskriminierenden, direkt oder indirekt auf der Staatsangehörigkeit oder - für Unternehmen - dem satzungsmäßigen Sitz beruhenden Anforderungen abhängig machen oder die Freiheit des Dienstleistungserbringers beschränken, zwischen einer Hauptniederlassung und einer Zweitniederlassung zu wählen.

Der Sachverhalt:
Die SOA Rina Organismo di Attestazione SpA ist eine Aktiengesellschaft mit Sitz in Genua. Sie befasst sich mit der Zertifizierung und der Durchführung technischer Kontrollen in Bezug auf die Organisation und Produktion von Bauunternehmen. Ihre Anteile werden zu 99 Prozent von der Rina SpA (der Holdinggesellschaft) und zu 1 Prozent von der Rina Services SpA gehalten. Ihr Gesellschaftszweck besteht in der Erbringung von Zertifizierungsdienstleistungen der Qualität UNI CEI EN 45000.

Die drei Gesellschaften fochten die Rechtmäßigkeit der italienischen Regelung, wonach sich der satzungsmäßige Sitz einer Zertifizierungseinrichtung (SOA) in Italien befinden muss, gerichtlich an. Das Ministerratspräsidium und weitere Parteien machten geltend, dass die von den SOA ausgeübte Tätigkeit mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden und daher dem Anwendungsbereich sowohl der Richtlinie als auch des AEU-Vertrags entzogen sei. Italien beruft sich zur Rechtfertigung des Erfordernisses eines satzungsmäßigen Sitzes der SOA im Inland darauf, dass die Wirksamkeit der von den Behörden ausgeübten Kontrolle der Tätigkeiten der SOA gewährleistet sein müsse.

Der mit dem Rechtsstreit befasste Staatsrat in Italien möchte im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens vom EuGH wissen, ob eine Regelung, nach der die SOA ihren satzungsmäßigen Sitz im Inland haben müssen, mit dem Unionsrecht vereinbar ist.

Die Gründe:
Eine nationale Regelung, nach der Zertifizierungseinrichtungen ihren satzungsmäßigen Sitz im Inland haben müssen, ist nach der Dienstleistungsrichtlinie nicht zulässig.

Zertifizierungsdienstleistungen fallen in den Anwendungsbereich der Dienstleistungsrichtlinie. Die SOA sind gewinnorientierte Unternehmen, die unter Wettbewerbsbedingungen tätig sind. Sie haben keine mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse verbundene Entscheidungsgewalt. Die Zertifizierungstätigkeiten der SOA sind daher nicht unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden.

Ist ein Dienstleistungserbringer verpflichtet, seinen satzungsmäßigen Sitz im Inland zu haben, so wird durch diese Vorgabe seine Freiheit beschränkt. Im Bereich der Niederlassungsfreiheit stellt die Richtlinie eine Liste "unzulässiger"" Anforderungen auf (etwa solche, die den satzungsmäßigen Sitz betreffen), die keiner Rechtfertigung zugänglich sind. Die Richtlinie räumt den Mitgliedstaaten nämlich nicht die Möglichkeit ein, die Beibehaltung dieser Anforderungen in ihren nationalen Rechtsvorschriften zu rechtfertigen.

Die Mitgliedstaaten können eine nach der Richtlinie unzulässige Anforderung auch nicht auf der Grundlage der im AEU-Vertrag enthaltenen Grundsätze rechtfertigen, da ihr sonst jede praktische Wirksamkeit genommen und die mit ihr angestrebte Harmonisierung letztlich untergraben würde. Eine etwaige Rechtfertigung auf der Grundlage der Grundsätze des AEU-Vertrags liefe dem Sinn der Richtlinie zuwider, wonach Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit insbesondere wegen der besonders großen Komplexität der fallweisen Prüfung dieser Beschränkungen nicht allein durch die direkte Anwendung der Bestimmungen des AEU-Vertrags beseitigt werden können.

Mit der Annahme, dass die nach der Richtlinie "unzulässigen" Anforderungen gleichwohl einer Rechtfertigung auf der Grundlage des Primärrechts zugänglich wären, würde aber gerade eine solche einzelfallbezogene Prüfung von Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit wieder eingeführt. Im Übrigen hindert der AEU-Vertrag den Unionsgesetzgeber nicht daran, beim Erlass einer Richtlinie wie der Dienstleistungsrichtlinie, die eine Grundfreiheit konkretisiert, die Möglichkeiten der Mitgliedstaaten zu beschränken, Ausnahmen vorzusehen, die das ordnungsgemäße Funktionieren des Binnenmarkts in gravierender Weise beeinträchtigen.

Linkhinweis:

Für den auf den Webseiten des EuGH veröffentlichten Volltext der Entscheidung klicken Sie bitte hier.

EuGH PM Nr.72 vom 16.6.2015
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