Zugang der Staatsanwaltschaft zu personenbezogenen Daten zur Ermittlung und Verfolgung schweren Diebstahls eines Mobiltelefons
EuGH, C 178/22: Schlussanträge des Generalanwalts vom 8.6.2023
Der Sachverhalt:
Die Procura della Repubblica presso il Tribunale di Bolzano (Staatsanwaltschaft beim Landesgericht Bozen, Italien) (im Folgenden: Staatsanwaltschaft) beantragt beim Tribunale di Bolzano (Landesgericht Bozen) die Genehmigung des Zugangs zu den von den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste nach nationalem Recht aufbewahrten Daten, die es u. a. ermöglichen, die Quelle und den Adressaten einer Mobiltelefonkommunikation zurückzuverfolgen und festzustellen.
Im Zusammenhang mit diesem Antrag ersucht das Tribunale di Bolzano (Landesgericht Bozen) den EuGH um die Auslegung von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58/EG. Diese Bestimmung erlaubt den Mitgliedstaaten, durch Rechtsvorschriften Ausnahmen von der in dieser Richtlinie vorgesehenen Pflicht zur Gewährleistung der Vertraulichkeit der elektronischen Kommunikation einzuführen. Im Urteil Prokuratuur hat der Gerichtshof entschieden, dass der durch Maßnahmen gemäß Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 erlangte Zugang zu Daten, aus denen genaue Schlüsse auf das Privatleben eines Nutzers gezogen werden können, einen schwerwiegenden Eingriff in die in den Art. 7, 8, 11 und in Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankerten Grundrechte und Grundsätze darstellt (EuGH v. 2.3.2021 - C‑746/18). Ein solcher Zugang darf nicht zum Zweck der Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von "Straftaten im Allgemeinen" bewilligt werden. Er darf nur in Verfahren zur Bekämpfung "schwerer Kriminalität" gewährt werden und muss einer vorherigen Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsbehörde unterliegen, damit die Einhaltung dieser Voraussetzung gewährleistet ist. Das Tribunale di Bolzano (Landesgericht Bozen) bittet den Gerichtshof, zwei Aspekte des Urteils Prokuratuur zu klären: den Begriff der "schweren Kriminalität" und den Umfang der vorherigen Kontrolle, die einem Gericht gemäß einer nationalen Regelung obliegt, wonach es den Zugang zu den von Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste gespeicherten Daten zu genehmigen hat.
Die Staatsanwaltschaft (Bozen) ermittelte in zwei Strafsachen gegen Unbekannt wegen schweren Diebstahls eines Mobiltelefons gemäß den Art. 624 und 625 des Strafgesetzbuchs. Um die Täter feststellen zu können, beantragte sie beim vorlegenden Gericht nach Art. 132 Abs. 3 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 196/2003 "... die Genehmigung, bei allen Telefongesellschaften alle in deren Besitz befindliche Daten zu erheben zwecks Tracking und Ortung (insbesondere Nutzungen und eventuell IMEI‑Codes des angerufenen/des anrufenden Anschlusses, besuchte/aufgerufene Websites, Uhrzeit und Dauer des Anrufs/der Verbindung und Angabe der Funkzellen und/oder betreffenden Mobilfunkmasten, Nutzungen und IMEI des Senders/Empfängers von SMS oder MMS und, wenn möglich, allgemeine Angaben zu den entsprechenden Anschlussinhabern) der ein- und ausgegangenen Telefongespräche/Kommunikationen und durchgeführten Verbindungen, auch im Roaming, auch wenn es sich um Anrufe handelt, die nicht berechnet wurden (Klingelzeichen), vom Zeitpunkt des Diebstahls bis zum Zeitpunkt der Antragstellung".
Das vorlegende Gericht bezweifelt, dass Art. 132 Abs. 3 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 196/2003 mit Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 in der Auslegung durch das Urteil Prokuratuur vereinbar ist.
Schlussanträge des Generalanwalts:
Der Generalanwalt schlägt dem EuGH vor, die Frage des Tribunale di Bolzano (Landesgericht Bozen, Italien) wie folgt zu beantworten:
Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation) in der durch die Richtlinie 2009/136/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 geänderten Fassung und die Art. 7, 8, und 11 sowie Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, wonach ein Gericht verpflichtet ist, der Staatsanwaltschaft Zugang zu den von den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste rechtmäßig gespeicherten Daten zu gestatten, aus denen genaue Schlüsse auf das Privatleben eines Nutzers gezogen werden können, sofern diese Daten für die Zwecke der Aufklärung des Sachverhalts relevant sind und hinreichende Anhaltspunkte für die Begehung einer schweren Straftat im Sinne des nationalen Rechts vorliegen, die mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht ist. Vor der Gewährung des Zugangs muss das nationale Gericht im Einzelfall konkret prüfen, ob der mit der Gewährung dieses Zugangs verbundene Eingriff in die Grundrechte in Anbetracht u. a. der Schwere der spezifischen Straftat und des jeweiligen Sachverhalts verhältnismäßig ist.
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Rechtsprechung:
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Die Procura della Repubblica presso il Tribunale di Bolzano (Staatsanwaltschaft beim Landesgericht Bozen, Italien) (im Folgenden: Staatsanwaltschaft) beantragt beim Tribunale di Bolzano (Landesgericht Bozen) die Genehmigung des Zugangs zu den von den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste nach nationalem Recht aufbewahrten Daten, die es u. a. ermöglichen, die Quelle und den Adressaten einer Mobiltelefonkommunikation zurückzuverfolgen und festzustellen.
Im Zusammenhang mit diesem Antrag ersucht das Tribunale di Bolzano (Landesgericht Bozen) den EuGH um die Auslegung von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58/EG. Diese Bestimmung erlaubt den Mitgliedstaaten, durch Rechtsvorschriften Ausnahmen von der in dieser Richtlinie vorgesehenen Pflicht zur Gewährleistung der Vertraulichkeit der elektronischen Kommunikation einzuführen. Im Urteil Prokuratuur hat der Gerichtshof entschieden, dass der durch Maßnahmen gemäß Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 erlangte Zugang zu Daten, aus denen genaue Schlüsse auf das Privatleben eines Nutzers gezogen werden können, einen schwerwiegenden Eingriff in die in den Art. 7, 8, 11 und in Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankerten Grundrechte und Grundsätze darstellt (EuGH v. 2.3.2021 - C‑746/18). Ein solcher Zugang darf nicht zum Zweck der Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von "Straftaten im Allgemeinen" bewilligt werden. Er darf nur in Verfahren zur Bekämpfung "schwerer Kriminalität" gewährt werden und muss einer vorherigen Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsbehörde unterliegen, damit die Einhaltung dieser Voraussetzung gewährleistet ist. Das Tribunale di Bolzano (Landesgericht Bozen) bittet den Gerichtshof, zwei Aspekte des Urteils Prokuratuur zu klären: den Begriff der "schweren Kriminalität" und den Umfang der vorherigen Kontrolle, die einem Gericht gemäß einer nationalen Regelung obliegt, wonach es den Zugang zu den von Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste gespeicherten Daten zu genehmigen hat.
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