08.07.2014

Zur Anwendbarkeit des freien Dienstleistungsverkehr bei Transporten von EWR-Vertragsstaaten aus oder in diese mit Schiffen unter Drittland-Flagge

Eine Gesellschaft mit Sitz in einem EWR-Staat, die Eigentümerin eines Schiffes ist, das unter der Flagge eines Drittlands fährt, kann sich auf den freien Dienstleistungsverkehr berufen, wenn sie Seeverkehrsdienstleistungen von einem EWR-Staat aus oder in diesen erbringt. Die Gesellschaft muss als Dienstleistungserbringerin qualifiziert werden können, und die Empfänger dieser Dienstleistungen müssen in anderen EWR-Staaten als dem ansässig sein, in dem die Gesellschaft ihren Sitz hat.

EuGH 8.7.2014, C-83/13
Hintergrund:
Das Unionsrecht sieht vor, dass der freie Dienstleistungsverkehr im Seeverkehr zwischen Mitgliedstaaten sowie zwischen Mitgliedstaaten und Drittländern auf Staatsangehörige der Mitgliedstaaten anwendbar ist, die in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Empfängers der Dienstleistungen ansässig sind. Sie gilt auch für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten, die außerhalb der Union ansässig sind, sowie für Reedereien mit Sitz außerhalb der Union, die von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats kontrolliert werden, vorausgesetzt, dass die Schiffe in diesem Mitgliedstaat gemäß dessen Rechtsvorschriften registriert sind.

Der Sachverhalt:
Fonnship ist eine norwegische Gesellschaft. Zwischen 2001 und 2003 war sie Eigentümerin eines Schiffes, das unter panamaischer Flagge fuhr, der M/S Sava Star. Dieses Schiff führte hauptsächlich Fahrten zwischen EWR-Vertragsstaaten durch. Seine Besatzung hatte die polnische und die russische Staatsbürgerschaft. Fonnship war die Arbeitgeberin dieser Besatzung. Nach Angaben von Fonnship wurden die Löhne der Besatzungsmitglieder durch einen zwischen ihr und einer russischen Gewerkschaft geschlossenen Tarifvertrag geregelt. Als das Schiff im Hafen von Holmsund (Schweden) lag, verlangte eine schwedische Gewerkschaft, die der Meinung war, die Löhne der Besatzung der Sava Star seien nicht fair, am 26.10.2001 von Fonnship den Abschluss eines von der Internationalen Transportarbeiter-Föderation gebilligten Tarifvertrags.

Da Fonnship dies ablehnte, wurden Arbeitskampfmaßnahmen eingeleitet, um u.a. die Be- und Entladung des Schiffes zu behindern. Am 29.10.2001 wurde trotz der Proteste der Besatzungsmitglieder ein Tarifvertrag zwischen Fonnship und der schwedischen Gewerkschaft geschlossen. Das Schiff konnte daraufhin den Hafen von Holmsund verlassen. Am 18.2.2003 lag die Sava Star im Hafen von Köping (Schweden). Zu diesem Zeitpunkt war die Vereinbarung von 2001 ausgelaufen. Nach dem Auslösen von Arbeitskampfmaßnahmen einer anderen schwedischen Gewerkschaft wurde trotz der Proteste der Besatzungsmitglieder ein neuer Tarifvertrag geschlossen. Das Schiff konnte daraufhin den Hafen verlassen.

Fonnship erhob gegen die Gewerkschaften Klage vor dem Arbeitsgericht in Schweden auf Ersatz des Schadens, der ihr durch die Störung der Erbringung ihrer Dienstleistungen aufgrund der Arbeitskampfmaßnahmen entstanden sei. Eine der Gewerkschaften erhob dort Klage gegen Fonnship auf Schadensersatz wegen Verletzung der Vereinbarung von 2001. In diesem Zusammenhang fragte das schwedische Gericht den EuGH, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass sich eine Gesellschaft mit Sitz in einem EWR-Vertragsstaat, die Eigentümerin eines Schiffes ist, das unter der Flagge eines Drittlands fährt, auf den freien Dienstleistungsverkehr berufen kann, wenn sie Seeverkehrsdienstleistungen von einem EWR-Vertragsstaat aus oder in diesen erbringt.

Die Gründe:
Eine Gesellschaft mit Sitz in einem EWR-Staat, die Eigentümerin eines Schiffes ist, das unter der Flagge eines Drittlands fährt, kann sich auf den freien Dienstleistungsverkehr berufen, wenn sie Seeverkehrsdienstleistungen aus einem EWR-Staat oder in diesen erbringt, vorausgesetzt, dass sie wegen des Betriebs dieses Schiffes als Dienstleistungserbringerin angesehen werden kann und die Empfänger dieser Dienstleistungen in anderen EWR-Staaten als dem ansässig sind, in dem die Gesellschaft ihren Sitz hat.

Das Unionsrecht benennt bei der Definition des persönlichen Anwendungsbereichs des freien Dienstleistungsverkehrs im Bereich des Seeverkehrs von einem EWR-Vertragsstaat aus oder folgende Personen: die Staatsangehörigen eines EWR-Vertragsstaats, die im EWR ansässig sind, die Staatsangehörigen eines EWR-Vertragsstaats, die in einem Drittland ansässig sind, und die Reedereien mit Sitz in einem Drittland, die von Staatsangehörigen eines EWR-Vertragsstaats kontrolliert werden. Der Gesetzgeber hat vorgesehen, dass die Schiffe in einem EWR-Vertragsstaat registriert sein müssen, so dass die Staatsangehörigen eines solchen Staates, die von einer in einem Drittland gelegenen Niederlassung aus operieren, vom freien Dienstleistungsverkehr ausgeschlossen sind, wenn ihre Schiffe nicht unter der Flagge dieses Staates fahren.

Für Staatsangehörige eines EWR-Vertragsstaats, die von einer im EWR gelegenen Niederlassung aus operieren, entfällt dieses Erfordernis, da ohnehin eine ausreichend enge Verbindung mit dem EWR-Recht gegeben ist. Es ist daher zu prüfen, ob die betreffende Person oder Gesellschaft als Erbringerin dieser Dienstleistungen angesehen werden kann. Dies ist der Fall, wenn sie das Schiff, mit dem dieser Transport durchgeführt wird, betreibt. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, den Wahrheitsgehalt dieser Behauptung zu beurteilen. Sollte Fonnship vorliegend als Erbringerin der Seeverkehrsdienstleistungen angesehen werden müssen, und sofern unstreitig ist, dass die Empfänger dieser Dienstleistungen in einem anderen EWR-Vertragsstaat als Norwegen ansässig waren, wird das vorlegende Gericht zu dem Ergebnis kommen müssen, dass diese Gesellschaft in den persönlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.

In diesem Fall muss jede Beschränkung, die geeignet gewesen ist, ohne objektive Rechtfertigung die Erbringung dieser Dienstleistungen zu behindern oder weniger attraktiv zu machen, für mit dem Unionsrecht unvereinbar erklärt werden. Jedenfalls wird die Anwendung des Unionsrechts in keiner Weise durch den Umstand berührt, dass das Schiff, das den Transport zur See durchführt und auf dem die Arbeitnehmer beschäftigt sind, zu deren Gunsten die Arbeitskampfmaßnahmen durchgeführt werden, unter der Flagge eines Drittlands fährt, noch dadurch, dass die Besatzungsmitglieder des Schiffes Staatsangehörige von Drittländern sind.

Linkhinweis:

Für den auf den Webseiten des EuGH veröffentlichten Volltext der Entscheidung klicken Sie bitte hier.

EuGH PM Nr. 94 vom 8.7.2014
Zurück