09.08.2016

Zur Bestimmung des Inhalts und der Reichweite des Klage- und Widerklagebegehrens durch Auslegung des Antrags unter Berücksichtigung der Klagebegründung

Inhalt und Reichweite des Klagebegehrens ebenso wie des Widerklagebegehrens werden nicht allein durch den Wortlaut des Antrags bestimmt. Vielmehr ist der Antrag unter Berücksichtigung der Klagebegründung auszulegen. Bei der Auslegung des Klageantrags ist wegen des verfassungsrechtlichen Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz und rechtliches Gehör im Zweifel das als gewollt anzusehen, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage der erklärenden Partei entspricht.

BGH 21.6.2016, II ZR 305/14
Der Sachverhalt:
Die Parteien streiten über Ansprüche aus einem Geschäftsführerdienstverhältnis. Die Klägerin führt als Erbin ihres am 14.12.2015 während des Beschwerdeverfahrens gegen die Nichtzulassung der Revision verstorbenen Ehemannes und früheren Klägers den Rechtsstreit fort. Der frühere Kläger (Kläger) war Geschäftsführer der Beklagten. Die Beklagte ist die einzige Komplementärin der S-GmbH & Co. KG (KG), eines weltweit tätigen Automobilzulieferers. Als Geschäftsführer der Beklagten führte der Kläger auf der Grundlage seines Geschäftsführeranstellungsvertrages mit der Beklagten vom 28.7.2005 die Geschäfte der KG.

Am 18.11.2010 kündigte die Beklagte das Geschäftsführerdienstverhältnis mit dem Kläger aus wichtigem Grund. Die Kündigung war u.a. darauf gestützt, dass der Kläger am 28.7.2010 ohne Zustimmung der Gesellschafterversammlung der KG für diese mit der T-GmbH (T) eine auf die Dauer von fünf Jahren nicht ordentlich kündbare Vertriebsvereinbarung geschlossen hatte, mit der die KG der T weltweit das alleinige Vertriebsrecht auf dem sog. "Independent Aftermarket" für alle von ihr hergestellten Produkte für Kraftfahrzeuge einräumte. Der Kläger, der die fristlose Kündigung für unwirksam hält, nahm die Beklagte auf Zahlung der Vergütungen für die Monate November 2010 bis September 2011 i.H.v. rd. 230.000 € sowie einer restlichen Tantieme für das Jahr 2009 i.H.v. rd. 10.000 € in Anspruch.

Die Beklagte beruft sich gegenüber den Vergütungsforderungen auf die fristlose Kündigung. Sie ist der Ansicht, der Kläger habe mit dem Abschluss der Vertriebsvereinbarung pflichtwidrig gehandelt, weil er seine Kompetenzen überschritten habe. Durch den Abschluss der Vereinbarung mit der T sei der KG ein erheblicher, noch nicht abschließend bezifferbarer Schaden entstanden, weil sie erhebliche Einbußen bei der Gewinnmarge der bislang von ihr selbst vertriebenen Produkte hinnehmen müsse. Die Beklagte rechnete gegen den Tantiemeanspruch mit einem Schadensersatzanspruch auf. Außerdem erhob sie Widerklage und beantragte festzustellen, "dass der Kläger der Beklagten zum Ersatz sämtlicher Schäden verpflichtet ist, die der KG durch die Vertriebsvereinbarung zwischen der KG und der T vom 28.7.2010 entstanden sind und noch entstehen werden".

Das LG wies die Klage ab und gab der Widerklage statt. Der Kläger legte gegen das Urteil des LG Berufung ein. Nach einem Hinweis des OLG stellte die Beklagte im Termin zur mündlichen Verhandlung am 28.11.2013 den Antrag auf Zurückweisung der Berufung mit der Maßgabe, dass der in erster Instanz gestellte Feststellungsantrag am Ende ergänzt wird um "und der KG von der Beklagten ersetzt werden"; diesen Antrag stellte sie in der Berufungsinstanz bis zuletzt so. Das OLG bestätigte die klageabweisende Entscheidung des LG bis auf einen Betrag von rd. 5.000 € nebst Zinsen. Hinsichtlich der weitergehenden Tantiemeforderung ließ es die von der Beklagten in der zweiten Instanz erklärte Aufrechnung mit einem ihr zustehenden Schadensersatzanspruch wegen eines Einzelschadens aus dem Abschluss der Vertriebsvereinbarung mit der T, den die Beklagte der KG i.H.v. rd. 5.000 € ersetzt hat, durchgreifen. Die Widerklage wies es als unzulässig ab. Auf die Revision der der Beklagten hob der BGH Berufungsurteil insoweit auf, als die Widerklage abgewiesen worden ist, und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurück.

Die Gründe:
Entgegen der Auffassung des OLG liegt in der Ergänzung des Feststellungsantrags durch die Beklagte keine (Wider-)Klageänderung, sondern lediglich eine Klarstellung ihres schon in erster Instanz mit diesem Inhalt gestellten (Wider-) Klageantrags. Zutreffend geht das OLG davon aus, dass die Beklagte mit ihrem in der Berufungsinstanz zuletzt gestellten Widerklageantrag einen ihr selbst zustehenden Ausgleichsanspruch gegen den Kläger festgestellt wissen will. Dieser bezieht sich, wie dem Wortlaut des ergänzten Antrags unzweifelhaft zu entnehmen ist, auf den Ausgleich eines eigenen Schadens der Beklagten. Dieses Begehren war aber auch schon Gegenstand der in erster Instanz erhobenen Widerklage.

Inhalt und Reichweite des Klagebegehrens ebenso wie des Widerklagebegehrens werden nicht allein durch den Wortlaut des Antrags bestimmt. Dieser ist unter Berücksichtigung der Klagebegründung auszulegen. Bei der Auslegung des Klageantrags ist im Zweifel wegen des verfassungsrechtlichen Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz und rechtliches Gehör das als gewollt anzusehen, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage der erklärenden Partei entspricht. Dabei unterliegt die inhaltliche Bewertung des Klageantrags durch das Berufungsgericht der uneingeschränkten Überprüfung in der Revisionsinstanz. Denn es steht die Auslegung einer Prozesserklärung in Frage, die das Revisionsgericht nach ständiger Rechtsprechung des BGH ohne Einschränkung nachprüfen darf.

Nach den dargelegten, für die Auslegung einer Prozesserklärung geltenden Maßstäben war schon der ursprüngliche Widerklageantrag, wie ihn die Beklagte in der Klageerwiderung vom 16.3.2011 in das Verfahren eingeführt und bis zum Schluss der 1. Instanz gestellt hat, auf die Geltendmachung eines ihr entstandenen Schadens gerichtet. Der in erster Instanz gestellte Widerklageantrag ist unklar formuliert. Dem Antrag lässt sich zwar entnehmen, dass es der Beklagten um die Feststellung eines ihr selbst zustehenden Ausgleichsanspruchs geht, wenn der "Kläger der Beklagten zum Ersatz sämtlicher Schäden verpflichtet" sein soll. Dabei soll es sich aber um diejenigen Schäden handeln, die der KG durch die Vertriebsvereinbarung entstanden sind oder noch entstehen werden. Deshalb liegt das Verständnis nahe, dass die Beklagte mit ihrem Antrag auf den Ersatz von Schäden eines Dritten abzielt. Denkbar ist aber auch, dass diese Beschreibung nur dazu dienen soll, den Anlass für den geltend gemachten Ausgleichsanspruch und seinen Umfang näher bestimmbar zu machen.

Der zur Auslegung des Widerklageantrags heranzuziehenden Begründung in der Klageerwiderung vom 16.3.2011 lässt sich jedoch deutlich entnehmen, dass letzteres der Fall ist und die Beklagte einen Anspruch auf Ersatz eines eigenen Schadens festgestellt haben möchte. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Beklagte den Ausgleich eigener Schäden begehrt, deren Umfang sich danach richten soll, in welcher Höhe der KG aus der vom Kläger abgeschlossenen Vertriebsvereinbarung ein Schaden entstanden ist, den die Beklagte dieser zu ersetzen hat. In diesem Sinn hat auch das LG das Begehren der Beklagten verstanden und festgestellt, dass der Beklagten durch die Pflichtverletzung des Klägers ein Schaden entstanden ist, den er der Beklagten zu ersetzen hat, dessen Höhe aber noch nicht feststeht.


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