Zur zutreffenden Sinndeutung einer Äußerung und Vermeidung fernliegender Deutungen
BGH v. 1.8.2023 - VI ZR 308/21
Der Sachverhalt:
Der Kläger, ein bekannter Fernsehmoderator und -entertainer nimmt die Beklagte auf Unterlassung von Wort- und Bildveröffentlichungen sowie Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten in Anspruch. Gegenstand des Rechtsstreits ist zum einen eine von der Beklagten in der von ihr verlegten Zeitschrift "neue woche" im Juli 2019 veröffentlichte Wort- und Bildberichterstattung unter der Überschrift "H[...] L[...] - Schockfotos! Was ist bloß mit seiner FRAU los?", zum anderen ein von der Beklagten in der von ihr verlegten Zeitschrift "FREIZEIT REVUE" veröffentlichter Beitrag ebenfalls im Juli 2019 mit der Schlagzeile auf der Titelseite: "H[...] L[...] - EHE-TRAGÖDIE - Aus Liebe opfert er seinen großen Traum". Im inneren Teil ist unter der Überschrift "H[...] L[...] - Aus Liebe opfert er seinen großen Traum" ein Artikel veröffentlicht, der sich in Wort und Bild mit dem Umzug der Eheleute L. von B. nach M. befasst.
Das LG gab dem Unterlassungsbegehren des Klägers und den daneben gestellten Klageanträgen auf Erstattung vorgerichtlicher Abmahnkosten teilweise statt und verurteilte dabei die Beklagte u.a., es zu unterlassen, in Bezug auf den Kläger zu behaupten und/oder behaupten zu lassen und/oder zu verbreiten und/oder verbreiten zu lassen "EHE-TRAGÖDIE" wie geschehen auf der Titelseite der "FREIZEIT REVUE" im Juli 2019 (Ziffer 2a des Tenors des landgerichtlichen Urteils) sowie an den Kläger rd. 250 € nebst Zinsen zu zahlen (Ziffer 4 des Tenors des landgerichtlichen Urteils). Auf die Berufung der Beklagten änderte das KG das landgerichtliche Urteil lediglich hinsichtlich dieser Abmahnkosten ab, wies die Klage insoweit ab- und die Berufung im Übrigen zurück.
Mit ihrer Revision verfolgt die Beklagte ihre Anträge auf Abweisung der Klage hinsichtlich der Unterlassung der Äußerung "Ehe-Tragödie" und der Erstattung vorgerichtlicher Abmahnkosten gem. Ziffer 4 des Tenors des landgerichtlichen Urteils weiter. Der Kläger erklärte nach Eingang der Revisionsbegründung erklärt, er verzichte auf den unter Ziffer 2a des Tenors des landgerichtlichen Urteils ausgeurteilten Klageanspruch sowie auf den unter Ziffer 4 des Tenors des landgerichtlichen Urteils ausgeurteilten Anspruch insoweit, als dieser noch rechtshängig sein sollte. Auf die Revision der Beklagten hob der BGH das Urteil des KG insoweit auf, als die Berufung der Beklagten gegen ihre Verurteilung gem. Ziffer 2a des Tenors des Urteils der LG zurückgewiesen worden ist. Weiterhin hob der BGH das Urteil des LG hinsichtlich Ziffer 2a des Tenors ab und wies die Klage insoweit ab, als die Beklagte verurteilt worden ist, es zu unterlassen, in Bezug auf den Kläger zu behaupten und/oder behaupten zu lassen und/oder zu verbreiten und/oder verbreiten zu lassen "EHE-TRAGÖDIE", wie geschehen auf der Titelseite der "FREIZEIT REVUE" im Juli 2019. Im Übrigen wies der BGH die Revision zurück.
Die Gründe:
Die Revision ist begründet, soweit sie sich gegen den Unterlassungsausspruch richtet. Soweit sie sich gegen die Verurteilung zur Erstattung vorgerichtlicher Abmahnkosten wendet, geht sie ins Leere, da das KG die Klage hinsichtlich der Verurteilung der Beklagten gem. Ziffer 4 des Tenors des landgerichtlichen Urteils zur Zahlung von rd. 250 € nebst Zinsen bereits rechtskräftig abgewiesen hat.
Ein Verzichtsurteil nach § 306 ZPO konnte trotz der Verzichtserklärung des Klägers hinsichtlich des noch rechtshängigen Unterlassungsanspruchs nicht ergehen. Denn entsprechend der Regelung in § 555 Abs. 3 ZPO für das Anerkenntnisurteil hätte es hierzu in der Revisionsinstanz eines gesonderten Antrags der Beklagten bedurft. Der § 555 Abs. 3 ZPO zugrundeliegende Rechtsgedanke, der Möglichkeit entgegenzuwirken, eine Grundsatzentscheidung des BGH durch ein Anerkenntnis zu verhindern, ist auf den Verzicht zu übertragen. Wie beim Anerkenntnisurteil hängt das Erfordernis eines gesonderten Antrags nicht davon ab, zu welchem Zeitpunkt der Verzicht in der Revisionsinstanz erklärt wurde. Einen Antrag auf Erlass eines Verzichtsurteils hat die Beklagte jedoch ausdrücklich nicht gestellt und sich auf ihr Interesse an einer sachlichen Klärung berufen.
Dem Kläger steht ein Unterlassungsanspruch aus § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB analog, § 823 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG hinsichtlich der Äußerung "Ehe-Tragödie" nicht zu. Zutreffend rügt die Revision, dass das KG seiner Würdigung einen unzutreffenden Sinngehalt dieser Äußerung zu Grunde gelegt hat und die Äußerung bei zutreffender Sinndeutung zulässig ist.
Die zutreffende Sinndeutung einer Äußerung ist unabdingbare Voraussetzung für die richtige rechtliche Würdigung ihres Aussagegehalts. Sie unterliegt in vollem Umfang der Nachprüfung durch das Revisionsgericht. Ziel der Deutung ist stets, den objektiven Sinngehalt zu ermitteln. Dabei ist weder die subjektive Absicht des sich Äußernden maßgeblich noch das subjektive Verständnis des Betroffenen, sondern das Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums. Ausgehend vom Wortlaut - der allerdings den Sinn nicht abschließend festlegen kann - und dem allgemeinen Sprachgebrauch sind bei der Deutung der sprachliche Kontext, in dem die umstrittene Äußerung steht, und die Begleitumstände, unter denen sie fällt, zu berücksichtigen, soweit diese für das Publikum erkennbar sind. Zur Erfassung des vollständigen Aussagegehalts muss die beanstandete Äußerung stets in dem Gesamtzusammenhang beurteilt werden, in dem sie gefallen ist. Sie darf nicht aus dem sie betreffenden Kontext herausgelöst einer rein isolierten Betrachtung zugeführt werden. Fernliegende Deutungen sind auszuschließen.
Nach diesen Grundsätzen ist der Begriff der "Ehe-Tragödie" auf der Titelseite der "FREIZEIT REVUE" nach dem Kontext der Äußerung nicht dahingehend zu verstehen, dass die Ehe des Klägers nach Meinung des Äußernden aktuell zu scheitern droht. Die bereits auf der Titelseite abgedruckte Beifügung "Aus Liebe opfert er seinen großen Traum", die im Artikel selbst wiederholt und dahingehend erläutert wird, dass der Kläger seinen "Traum vom Altersruhesitz im Natur-Idyll" in B. "ausgeträumt" und aufgegeben habe, um - zur Vermeidung einer beruflich bedingten und belastenden Fernbeziehung - nach Nordrhein-Westfalen zurückzuziehen, macht für den Durchschnittsleser deutlich, dass die "Ehe-Tragödie" vielmehr in der vom Kläger getroffenen Entscheidung liegen soll, zugunsten seiner Ehe die Lebensplanung zu ändern. Hinsichtlich dieser Bewertung des in dem - selbst nicht angegriffenen - Artikel geschilderten Sachverhalts, dessen Wahrheitsgehalt hinsichtlich der Motivation des Umzugs vom Kläger nicht in Abrede gestellt wird, besteht kein Unterlassungsanspruch. Der Kläger macht insoweit schon keine Verletzung seines Persönlichkeitsrechts geltend, sondern sieht diese allein in der - tatsächlich nicht geäußerten - Mutmaßung, der Fortbestand seiner Ehe sei gefährdet.
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Kommentierung | ZPO
§ 555 Allgemeine Verfahrensgrundsätze
Heßler in Zöller, Zivilprozessordnung, 34. Aufl. 2022
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Feskorn in Zöller, Zivilprozessordnung, 34. Aufl. 2022
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Die Revision ist begründet, soweit sie sich gegen den Unterlassungsausspruch richtet. Soweit sie sich gegen die Verurteilung zur Erstattung vorgerichtlicher Abmahnkosten wendet, geht sie ins Leere, da das KG die Klage hinsichtlich der Verurteilung der Beklagten gem. Ziffer 4 des Tenors des landgerichtlichen Urteils zur Zahlung von rd. 250 € nebst Zinsen bereits rechtskräftig abgewiesen hat.
Ein Verzichtsurteil nach § 306 ZPO konnte trotz der Verzichtserklärung des Klägers hinsichtlich des noch rechtshängigen Unterlassungsanspruchs nicht ergehen. Denn entsprechend der Regelung in § 555 Abs. 3 ZPO für das Anerkenntnisurteil hätte es hierzu in der Revisionsinstanz eines gesonderten Antrags der Beklagten bedurft. Der § 555 Abs. 3 ZPO zugrundeliegende Rechtsgedanke, der Möglichkeit entgegenzuwirken, eine Grundsatzentscheidung des BGH durch ein Anerkenntnis zu verhindern, ist auf den Verzicht zu übertragen. Wie beim Anerkenntnisurteil hängt das Erfordernis eines gesonderten Antrags nicht davon ab, zu welchem Zeitpunkt der Verzicht in der Revisionsinstanz erklärt wurde. Einen Antrag auf Erlass eines Verzichtsurteils hat die Beklagte jedoch ausdrücklich nicht gestellt und sich auf ihr Interesse an einer sachlichen Klärung berufen.
Dem Kläger steht ein Unterlassungsanspruch aus § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB analog, § 823 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG hinsichtlich der Äußerung "Ehe-Tragödie" nicht zu. Zutreffend rügt die Revision, dass das KG seiner Würdigung einen unzutreffenden Sinngehalt dieser Äußerung zu Grunde gelegt hat und die Äußerung bei zutreffender Sinndeutung zulässig ist.
Die zutreffende Sinndeutung einer Äußerung ist unabdingbare Voraussetzung für die richtige rechtliche Würdigung ihres Aussagegehalts. Sie unterliegt in vollem Umfang der Nachprüfung durch das Revisionsgericht. Ziel der Deutung ist stets, den objektiven Sinngehalt zu ermitteln. Dabei ist weder die subjektive Absicht des sich Äußernden maßgeblich noch das subjektive Verständnis des Betroffenen, sondern das Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums. Ausgehend vom Wortlaut - der allerdings den Sinn nicht abschließend festlegen kann - und dem allgemeinen Sprachgebrauch sind bei der Deutung der sprachliche Kontext, in dem die umstrittene Äußerung steht, und die Begleitumstände, unter denen sie fällt, zu berücksichtigen, soweit diese für das Publikum erkennbar sind. Zur Erfassung des vollständigen Aussagegehalts muss die beanstandete Äußerung stets in dem Gesamtzusammenhang beurteilt werden, in dem sie gefallen ist. Sie darf nicht aus dem sie betreffenden Kontext herausgelöst einer rein isolierten Betrachtung zugeführt werden. Fernliegende Deutungen sind auszuschließen.
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Kommentierung | ZPO
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