17.11.2020

Auslegung eines Ehegatten-Erbvertrags in einer Patchworkfamilien-Konstellation

Bei Wegfall eines der Schlusserben stellt sich die Frage einer vertragsmäßigen Bindung des überlebenden Ehegatten betreffend diesen Erbteil infolge Anwachsung zugunsten der übrigen Schlusserben erst, sofern kein Wille der Ehegatten in Bezug auf eine erneute Testierung des überlebenden Ehegatten infolge des Wegfalls des Schlusserben im Wege der individuellen Auslegung festgestellt werden kann.

OLG München v. 5.11.2020 - 31 Wx 415/17
Der Sachverhalt:
Kern des Rechtsstreits war die Frage, inwieweit ein Erbvertrag den länger lebenden Ehegatten bindet - hier in der Konstellation einer Patchworkfamilie.

Die Erblasserin und ihr vorverstorbener Ehemann hatten 1979 einen Ehe- und Erbvertrag geschlossen, in dem sie sich gegenseitig zu Alleinerben eingesetzt hatten, ohne Rücksicht darauf, ob und wieviele Pflichtteilsberechtigte vorhanden sind.

Für den Fall des Todes des Längstlebenden von Ihnen bestimmten sie zu Erben zu gleichen Anteilen
a) die Tochter der Ehefrau (...)
b) eine Tochter des Ehemannes aus zweiter Ehe (= Beteiligte zu 2)
c) eine weitere Tochter des Ehemannes aus zweiter Ehe (= Beteiligte zu 1).

Ersatzerben wurden ausdrücklich nicht bestimmt. Sollte einer der eingesetzten Erben beim Tode des erstversterbenden Teils der Eheleute seinen Pflichtteil geltend machen, so sollte er nach dem Tode des Längstlebenden der Eheleute nicht Erbe werden. In diesem Fall sollten Erbe zu gleichen Anteilen die übrigen eingesetzten Erben werden.

Die Tochter der Ehefrau ist ohne Hinterlassung von Abkömmlingen vorverstorben.

Die Erblasserin hat mehrere notarielle Testamente errichtet. In dem letzterrichteten (11.5.2009) hat sie den Beteiligten zu 3 zu ihrem Alleinerben bestimmt.

Das Nachlassgericht stellte 2016 - entsprechend einem Antrag der Beteiligten zu 1 und 2 - einen Erbschein aus, der eine Erbquote zu ihren Gunsten von je 1/2 ausweist. Auf die Beschwerde des Beteiligten zu 3 hat das OLG nun den Beschluss des Nachlassgerichts aufgehoben.

Die Gründe:
Die zulässige Beschwerde hat bereits deswegen in der Sache Erfolg, da - ungeachtet der zwischen den Beteiligten strittigen Frage, ob ein Pflichtteilverlangen der Beteiligten zu 1 und 2 gegeben ist - der von den Beteiligten zu 1 und 2 erstrebte Erbschein (Miterbinnen von jeweils ½) nicht die materielle Erbfolge abbildet.

Der Senat teilt nicht die Auffassung des Nachlassgerichts, dass die Erblasserin die in dem Erbvertrag getroffene Erbeinsetzung im Hinblick auf § 2289 Abs. 1 S. 2 BGB deswegen nicht mehr abändern konnte, da der Erbteil der bedachten Tochter der Erblasserin, die infolge Vorversterbens weggefallen ist, den Beteiligten zu 1 und 2 angewachsen ist und diese Anwachsung von der Bindungswirkung im Sinne der § 2278 BGB i.V.m. § 2289 Abs. 1 S. 2 BGB erfasst wird.

Es erscheint bereits fraglich, ob die nach § 2094 BGB eintretende Anwachsung eines Erbteils infolge Wegfalls eines Bedachten überhaupt eine vertragsmäßige Verfügung im Sinne des § 2278 Abs. 2 BGB darstellt.

§ 2278 Abs. 1 BGB setzt in Bezug auf die Vertragsmäßigkeit deren Anordnung durch die Ehegatten voraus, wobei diese auf die in § 2278 Abs. 2 enumerativ aufgezählten Verfügungen beschränkt ist. Demgegenüber tritt die Anwachsung als dispositive Ergänzungsnorm kraft Gesetzes ein. Im Hinblick darauf stellt die Anwachsung nach Auffassung des Senats gerade keine Verfügung im Sinne des § 2278 BGB dar. Soweit dies im Falle einer Pflichtteilsklausel vertreten wird, findet diese Auffassung ihre Rechtfertigung im Kern darin, dass die Ehegatten ihre Erbfolge durch die Erbeinsetzung abschließend getroffen haben und die Pflichtteilsklausel bei ihrem Eingreifen als Teil des Willens der Ehegatten die bereits getroffene Erbfolge modifiziert und sich diese Erbfolge somit auf einer letztwilligen Verfügung der Ehegatten beruht. Die Regelung in der Pflichtteilsklausel ist somit Teil der Erbeinsetzung und erweist sich so als eine Verfügung im Sinne des § 2278 Abs. 2 BGB.

Dieser Ansatz lässt sich aber nicht ohne weiteres auf die sonstigen Fälle eines Wegfalls des ursprünglich Bedachten übertragen. In dem vorliegenden Fall des Vorversterben eines der Bedachten tritt die Anwachsung allein kraft Gesetzes infolge Vorversterbens der Bedachten ein, da die Ehegatten für diesen Fall ausdrücklich keine Regelung ("Ersatzerben werden heute nicht bestimmt") getroffen haben. Insofern ist die Anwachsung nicht die Kehrseite einer von den Ehegatten getroffenen Erbeinsetzung, sondern tritt allein kraft Gesetzes ein, sodass sich die Anwachsung nicht als "andere Verfügung" im Sinne des § 2278 Abs. 2 BGB darstellt und demgemäß in diesem Umfang auch keine Bindungswirkung eintreten kann. Die hiergegen erhobenen Einwände im Hinblick auf die Einheitlichkeit des Erbteils greifen nicht. Denn inmitten steht allein die Frage, ob eine später errichtete letztwillige Verfügung die erbrechtliche Stellung der weiterhin Bedachten im Sinne des § 2289 Abs. 1 S. 2 BGB beeinträchtigt. Insofern geht § 2289 Abs. 1 S. 2 BGB davon aus, dass die Unwirksamkeit auch nur Teile einer letztwilligen Verfügung erfassen kann ("soweit").

Die Frage, ob die infolge Wegfalls eines Bedachten nach § 2094 BGB eintretende Anwachsung unter § 2278 BGB fällt und sich insofern als vertragsmäßig darstellt, bedarf jedoch keiner abschließenden Entscheidung, da die individuelle Auslegung der im Erbvertrag getroffenen Anordnungen vorliegend zu dem Ergebnis führt, dass die Erblasserin nach Wegfall ihrer Tochter zu einer neuen letztwilligen Verfügung in Bezug auf diesen Erbteil befugt sein sollte.

Die von den Ehegatten in dem Erbvertrag getroffenen Anordnungen sind nach dem Verständnis des konkreten Empfängers der Willenserklärung in der konkreten Situation der Errichtung des Erbvertrags auszulegen, wobei die §§ 157, 242 BGB Anwendung finden und alle Umstände, sowohl in und außerhalb der Testamentsurkunde zu berücksichtigen sind, vorliegend insbesondere die familiären Beziehungen der Ehegatten zu den jeweiligen Bedachten.

Vor deren Hintergrund (Beteiligte zu 1 und 2 sind Kinder des Ehemannes aus seiner zweiten Ehe; die vorverstorbene Bedachte war eine Tochter der Erblasserin aus ihrer erster Ehe) ist die Anordnung der Vertragsmäßigkeit insofern auslegungsbedürftig, da in einer solchen Konstellation das Interesse der jeweiligen Ehepartner in der Regel primär darauf gerichtet ist, dass der eine Ehepartner an seiner letztwilligen Verfügung zugunsten der Abkömmlinge des anderen Ehepartners gebunden ist, nicht aber an seine Verfügung zugunsten des eigenen Kindes. Diese Interessenslage kommt auch in der Regelung des § 2270 Abs. 2 BGB zum Ausdruck, die im Rahmen des § 2278 BGB entsprechend heranzuziehen ist.

Unter Zugrundelegung dieser Wertung ist der Senat der Überzeugung, dass die Willensrichtung der Ehegatten im Zeitpunkt des Abschlusses des Erbvertrags allein darauf gerichtet war, dass der überlebende Ehegatte die Erbenstellung der jeweiligen Abkömmlinge des erstversterbenden Ehegatten nach dessen Ableben nicht mehr entziehen kann, jedoch nicht an einer unveränderlichen Selbstbindung in Bezug auf seine eigenen Abkömmlinge. Demgemäß war die Erblasserin nicht daran gehindert, in Bezug auf den ihrer Tochter ursprünglich zugedachten Erbteil neu zu testieren, hingegen war sie in Bezug auf die den Beteiligten zu 1 und 2 zugedachten Erbteile an ihrer Erbeinsetzung in dem Erbvertrag gebunden, da das Interesse des Ehemanns der Erblasserin darauf gerichtet war, diesen als seine Kinder ihre zugedachten Erbteile zu sichern.

Insofern kommt es zwar nach Wegfall der Tochter der Erblasserin zu einer Anwachsung zugunsten der Erbteile der Beteiligten zu 1 und 2. Die "Beeinträchtigung" i.S.d. § 2289 Abs. 1 S. 2 BGB infolge der Neutestierung der Erblasserin bezieht sich aber allein auf die den Bedachten zu 1 und 2 ursprünglich angedachten Erbteile, umfasst aber nicht den angewachsenen Erbteil. Dem steht nicht entgegen, dass der angewachsene Erbteil keinen gesonderten Erbteil darstellt, sondern ursprünglicher Erbteil und "anwachsender Erbteil" eine Einheit darstellen. Denn - wie bereits oben ausgeführt - geht § 2289 Abs. 1 S. 2 BGB davon aus, dass die Unwirksamkeit auch nur Teile einer letztwilligen Verfügung erfassen kann ("soweit").

Demgemäß führt die Neutestierung der Erblasserin zu einer Erbenstellung der Beteiligten zu je 1/3. Dies hat grundsätzlich zur Konsequenz, dass der Senat zum einen den Beschluss des Nachlassgerichts bereits deswegen aufhebt, zum anderen dass er den Erbscheinsantrag der Beteiligten zu 1 und 2 zurückweist.

Statt der Zurückweisung des Antrags besteht aber auch die Möglichkeit, dass der Senat - mit Aufhebung der Entscheidung des Nachlassgerichts - die Akten an das Nachlassgericht zurückgibt, damit die Beteiligten zu 1 und 2 die Möglichkeit erhalten, den ursprünglichen Antrag entsprechend abzuändern. Insofern liegt keine gebührenpflichtige Neuantragstellung vor. Dies setzt aber voraus, dass mit einer entsprechenden Antragsänderung zu rechnen ist. Dies ist vorliegend der Fall, da die Beteiligten zu 1 und 2 ausdrücklich eine entsprechende Antragsänderung nach Rückgabe der Akten an das Nachlassgericht angekündigt haben.
Bayerische Staatskanzlei online
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